Die achte Folge unserer Interviewserie mit syrischen Aktivisten aus der belagerten Stadt Moaddamiyeh, westlich von Damaskus, berichtet von Shams AlShami, die sich aktiv um die Jugendlichen vor Ort kümmert und versucht, trotz der schwierigen Situation, gemeinsam mit ihnen Pläne für die Zukunft zu schmieden.
Von Ameenah A. Sawwan, 12.09.2016Moaddamiyeh war ein früher Hotspot für die Anti-Assad-Demonstrationen und der darauffolgenden Regierungsunterdrückung. Die Menschen leiden seit vier Jahren unter der Belagerung durch das Assad-Regime und wurden im August 2013 mit chemischen Waffen angegriffenen. Trotz aller Gewalt, die ihnen bis heute widerfährt, haben diese Aktivisten den Glauben an den Frieden auch nach fünf Jahren der Revolution nicht verloren. Es ist höchste Zeit, dass ihre Stimmen Gehör finden. Ihre Worte reflektieren ihre Anstrengungen und Hoffnungen.
Als 2011 die Syrische Revolution gegen die Assad-Familie begann, bereitete sich die heute 39-jährige Shams AlShami gerade auf ihre Prüfung zum Dr. phil. vor. Shams engagierte sich bei den Demonstrationen, die in ihrer Heimatstadt und der näheren Umgebung stattfanden.
„Für uns war es unabdingbar, an der Revolte teilzunehmen. Für meine Familie und mich war das weniger eine Option, als vielmehr eine Pflicht. Lautstark gegen die Unterdrückung zu protestieren, vermittelte uns ein gutes Gefühl. In der festen Überzeugung, meine Stimme sei wichtig und nützlich, machte ich mir zu diesem Zeitpunkt keinerlei Gedanken darüber, was uns all das kosten würde. Ich dachte vielmehr: Wir haben einen Anfang gemacht, und nichts kann uns aufhalten. Es wäre absolut illoyal gewesen, einfach zu ignorieren, was um uns herum geschah. Zu ignorieren, dass meine Kommiliton*innen reihenweise direkt von der Universität weg verhaftet wurden, während ich meinen Doktortitel vorbereitete. Also hörte ich auf zu studieren.“
Zunächst half sie, die revolutionären Aktivitäten in Moadamiyeh in den sozialen Netzwerken zu koordinieren. Außerdem spielte Shams eine große Rolle bei der Organisation der feministischen Aktivitäten, die sich gegen Unterdrückung und willkürliche Verhaftungen von Zivilist*innen durch das Regime formierten. Eine Weile gelang es ihr noch, nebenbei ihre Prüfungen vorzubereiten und als Lehrerin an einer staatlichen Schule zu arbeiten. Doch nachdem sie sich an der Revolution beteiligt hatte, verlor sie sowohl ihren Studienplatz als auch ihre Arbeit.
„Ich habe alles miterlebt in Moaddamiyeh, die Belagerung, den Einsatz chemischer Waffen und was sonst noch so geschah in den vergangenen fünf Jahren. Es kommt mir unglaublich lang vor. Aber nach allem, was passiert ist, bin ich nun stärker und wirklich stolz darauf, dass ich meine Stadt nie verlassen habe.“
Mit Beginn der Luftangriffe machten Shams und ihre Freunde eine neue gefährliche Erfahrung. Auf einmal hing das Überleben nur noch vom Glück ab. Doch Glück hin, Glück her, Shams war überzeugt, dass es für sie keine Alternative gab. Sie musste ihren Verpflichtungen nachkommen.
„Am Anfang war es schrecklich. Als ich das erste Mal sah, wie eine MiG-23 uns bombardierte, traute ich meinen Augen nicht. Aber irgendwann gewöhnten wir uns tatsächlich daran. Man hört die Einschläge und betet im Stillen, dass niemand getötet wurde. Und dann folgst du deinem Tagesablauf, ohne zu realisieren, dass du dein eigenes Leben mit der nächsten Bombe verlieren könntest.“
Gemeinsam mit anderen Aktivisten unternahm Shams Touren durch die Stadt, bei denen sie die Bewohner zu der Belagerung und der Lebenssituation in Moaddamiyeh befragte. Die Interviews zeichnete sie mit einer Videokamera auf. Diese Aktion wurde unter dem Namen „Sarkhet Balad“ bekannt – zu Deutsch etwa: „Heimat-Aufschrei“ – und ermöglichte den Menschen, ihre entsetzlichen Lebensumstände darzustellen.
„Die Belagerung ist und bleibt das Schlimmste, das wir erlebt haben. Ich erinnere mich, wie erschöpft wir waren, als wir diese Aktion durchführten. 2013 wurde die Stadt zum ersten Mal belagert. Tagtäglich trafen wir auf Menschen, die wegen ihrer Unterzuckerung zitterten, während sie mit uns sprachen. Trotz unseres eingeschränkten Internetzugangs versuchten wir die Geschichten im Netz zu platzieren. Darüber hinaus wollten wir natürlich auch abseits der Medien helfen.
Ich begann wieder zu unterrichten – dabei ging es nicht so sehr um Lehren oder Lernen. Ich unterrichtete nicht in einer Schule. Stattdessen lud ich die 12- bis 18-jährigen Kinder unserer Nachbarn und Verwandten zu uns nach Hause ein. Ich redete und spielte irgendwelche Spiele mit ihnen. Umgeben von Chaos und Gewalt ist es schwer, die Moralvorstellungen aufrecht zu erhalten. Diese Kinder hatten ein enormes Bedürfnis danach, einfach frei zu sprechen und zu diskutieren. Ein Freiraum, der dringend notwendig ist. So dienten unsere Treffen vor allem dazu sie reden zu lassen, was und worüber sie wollten. Wir sind viel älter als sie und wissen genau, was wir wollen. Wir spüren das Bedürfnis über die Freiheit zu sprechen, das Recht auf freie Meinungsäußerung, wie man Freiheit richtig versteht und dass man nicht aufgeben darf, immer versuchen muss, mit diesen trostlosen Umständen fertig zu werden. Die Ergebnisse waren überaus erfreulich. Sie wollten um alles in der Welt reden und nannten mich ihre Mentorin. Das finde ich großartig. Sie sind interessiert, stark, entschlossen. Wir müssen ihnen nur den richtigen Weg zeigen. Ich hoffe, dass ich ihnen genau dabei helfen kann.“
Shams lebt jetzt seit 5 Jahren in der Stadt, hat sie nicht einmal verlassen und scheint es nicht zu bedauern. Die Arbeit mit den Teenagern führte dazu, dass Shams ein kleines entwicklungspolitisches Institut gründete, Leen (Learning energy efficiency networks A.d.Ü). Das Institut soll junge Leute dabei unterstützen, eine Ausbildung zu absolvieren. Es besteht aus zwei Abteilungen. Im theoretischen Fachbereich setzen sich die Schüler mit Kreativität auseinander, lernen Ziele erkennen und ihre eigenen Ziele zu setzen. Im praktischen Fachbereich haben sie die Möglichkeit, einen der vom Institut angebotenen Berufe zu wählen.
„Man könnte meinen, dass die Themen sich geändert haben und ich nicht etwa eine Situation inmitten der Belagerung beschreibe. Aber das ist so nicht ganz richtig, denn wir befinden uns erneut im Zustand einer Belagerung. Seit Ende 2015 sind die Versorgungskorridore nach Moaddamiyeh wieder geschlossen, und wir bewegen uns auch diesmal auf eine furchtbare Phase zu. Dennoch können wir nicht einfach abwarten, bis wir verhungern. Das Leben wird weitergehen, und wir werden unseren Weg zu Ende gehen mit den Menschen, die überleben. Vielleicht erreichen sie das Ende der Straße ohne mich. Vielleicht werde ich dann nicht mehr unter ihnen sein – aber zumindest werde ich Spuren hinterlassen, denen man folgen kann.“
Bei den Projekten, an denen im praktischen Bereich des Instituts gearbeitet wird, handelt es sich in erster Linie um Berufe, die im Zusammenhang mit Belagerung und Aufbauarbeit sinnvoll erscheinen.
„Es gibt immer wieder Leute, die versuchen, uns zu entmutigen. Sie sagen, dass es unter diesen Umständen ohnehin sinnlos ist, irgendetwas zu unternehmen. Aber wir geben unser Bestes, ganz gleich, was geschieht. Den Horizont dieser Teenager zu erweitern, sie zu erziehen, ist das Beste, was wir hier und jetzt tun können. Man kann doch nicht einfach nur herumsitzen und sich überflüssig fühlen. Es gibt ein Sprichwort, das ich sehr mag. Ich wiederhole es immer wieder, um meine Schüler zu motivieren:
Führe dein Leben im Glauben, mit Arbeit, im Kampf, mit Hoffnung und wisse den Wert des Lebens, das dir gegeben wurde, zu schätzen. … und das ist es, was wir tun.“
In zwei Wochen erscheint an dieser Stelle die neunte Folge der Reihe Through Their Voices : Die Stimme des Augenzeugen, ein Interview mit Ghassan Abu Ahmad, der lange Jahre für das Kulturzentrum in Moaddamiyeh gearbeitet hat und erklärt, warum er es so wichtig findet, auch weiterhin gegen die Unterdrückung zu kämpfen.
Bereits erschienen sind Die Stimme des Träumers (1) / (2) , Die Stimme der Lehrerin, Die Stimme des Sanitäters, Die Stimme des Hoffnungsgebers, Die Stimme der Rückkehrerin und Die Stimme des Chronisten.
Ameenah A. Sawwan ist eine syrische Aktivistin und Journalistin aus Moaddamiyeh. Sie macht in ihren Texten auf Menschenrechtsverletzungen in den Krisengebieten Syriens aufmerksam. Ihre Augenzeugenberichte des Giftgasangriffs von 2013 waren Teil einer großen Aufklärungskampagne in den USA. Ameenah A. Sawwan bringt Geschichten aus dem Inneren Syriens ans Licht und zeigt uns Seiten ihres Heimatlandes, die heute kaum mehr sichtbar sind.
Übersetzung aus dem Englischen: Katja Doubek