Ammar 2011 auf einer der ersten Demonstrationen gegen das Assad Regime. Foto: Privat
Ammar 2011 auf einer der ersten Demonstrationen gegen das Assad Regime. Foto: Privat

Through Their Voices: Die Stimme des Träumers (1)

Sie leben unter schwierigsten Bedingungen – Menschen im syrischen Moaddamiyeh, westlich von Damaskus. Through their Voices ist eine Interviewserie mit zehn syrischen Aktivisten aus der belagerten Stadt. Sie will jenen Stimmen einen Raum geben, die kaum noch gehört werden.

Von Ameenah A. Sawwan, 30.05.2016

Moaddamiyeh  war ein früher Hotspot für die Anti-Assad-Demonstrationen und der darauffolgenden Regierungsunterdrückung. Die Menschen leiden seit vier Jahren unter der Belagerung durch das Assad-Regime und wurden im August 2013 mit chemischen Waffen angegriffenen. Trotz aller Gewalt, die ihnen bis heute widerfährt, haben diese Aktivisten den Glauben an den Frieden auch nach fünf Jahren der Revolution nicht verloren. Es ist höchste Zeit, dass ihre Stimmen Gehör finden. Ihre Worte reflektieren ihre Anstrengungen und Hoffnungen. Die Stimme des Träumers bildet den Auftakt der Serie.

Ammar Ahmad ging es wie jedem anderen jungen Mann in Syrien. Stets wartete er auf seine Chance, in einem Land, das im Wesentlichen nur von einer einzigen Familie beherrscht wird: der Assad-Familie und ihren Anhängern. Das jedenfalls hat Ammar immer gedacht.

Ammar hat am Institut für Flughafenwesen und Luftverkehr in Damaskus studiert. Das Gesetz schreibt vor, dass alle Absolventen des Instituts von Flughäfen oder staatlichen Institutionen, die mit Flughäfen in Verbindung stehen, angestellt werden müssen. Ammar aber wurde nicht eingestellt und alle seine Bewerbungen wurden abgelehnt. Er versuchte auf allen Wegen eine Stelle zu bekommen, doch es schien aussichtslos. Zur gleichen Zeit wurden die meisten Absolventen seiner Klasse in angesehenen Positionen angestellt, weil ihre Väter oder Verwandte für das Regime arbeiteten.

„Ich war wirklich verzweifelt, weil es von meiner Seite nichts mehr gab, was ich noch hätte tun können, um einen Job zu bekommen. Ich hatte die Hoffnung, eine Anstellung in meinem Fachgebiet zu finden, völlig verloren. Also beschloss ich, zunächst zum Militär zu gehen, was die schlimmste Vorstellung für jeden jungen syrischen Mann ist. In Syrien ist der Wehrdienst nicht freiwillig, man ist gezwungen, ihn abzuleisten und bevor man den Militärdienst beendet hat, ist es einem ohnehin nicht gestattet, viel anderes zu tun. Das Leben syrischer Männer beginnt nicht, wenn sie geboren werden, sondern wenn sie frei sind und ihren Dienst beim Militär beendet haben.“

Der Wehrdienst in Syrien dauert zweieinhalb Jahre, was viele Syrer als Zeitverschwendung betrachten.

Ammar hat die Idee von privilegierten Eliten, die ihre Macht und Verbindungen nutzen, um ihr Leben zu organisieren schon immer gehasst, und nun befand er sich in einer genau solchen, hoffnungslosen Situation. Im Jahr 2009 beendete er seinen Militärdienst und eröffnete zusammen mit seinem Bruder ein Geschäft für Computer und Mobiltelefone. Sie reparierten defekte elektronische Geräte und halfen ihren Kunden Computerprobleme zu lösen.

Eines Tages empfahl ihm ein Freund den Roman The Shell des syrischen Autors Moustafa Khalifa zu lesen, der auf einer wahren Geschichte beruht. Ammar lud sich den Roman aus dem Internet herunter. Khalifa war in den siebziger Jahren nach Frankreich gegangen, um sich zum Filmregisseur ausbilden zu lassen und wurde am Flughafen von Damaskus festgenommen, als er aus Paris zurückkehrte. Von 1982 bis 1994 wurde er ohne Gerichtsverfahren in verschiedenen syrischen Sicherheitsgefängnissen inhaftiert. Darunter das berüchtigte Militärgefängnis Tadmur, eine Haftanstalt, die als wahrer Alptraum für die Insassen beschrieben wird.

Moustafa Khalifa wurde beschuldigt Unterstützer und Teil einer Muslimbruderschaft zu sein, obwohl er Christ war und keinerlei Kontakt zu dieser Gruppe hatte. Der Roman richtet den Blick auf die schonungslosen Details von Folter und Verbrechen, die vom syrischen Geheimdienst begangen wurden.

„Drei Tage lang konnte ich nicht schlafen, weil ich das Buch unbedingt zu Ende lesen wollte. Ich konnte die in Syrien versteckte Brutalität einfach nicht fassen. Ich hatte gemischte Gefühle, gleichzeitig spürte ich Angst, war traurig, deprimiert und schockiert. Aber am schlimmsten war es herauszufinden, warum Moustafa Khalifa all das widerfahren war. Der wahre Grund für seine zwölfjährige Haft war Folgender: Eines Abends war er in Paris mit syrischen Freunden essen. Ein angeblicher Freund eines Freundes gesellte sich zu der Gruppe und einer von ihnen erzählte einen Witz über Hafiz Al-Assad, dem ehemaligen Präsidenten (und Vater des jetzigen Präsidenten), der Syrien zu diesem Zeitpunkt regierte. Alles, was Moustafa Khalifa getan hatte, war über diesen Witz zu lachen. Der angebliche Freund eines Freundes muss ein Informant des Assad-Regimes gewesen sein. Aus diesem Grund hat Khalifa zwölf Jahre im Dunkeln verbracht! Mehr denn je fühlte ich mein Herz voller Hass für dieses kriminelle Regime. Ich habe viele Geschichten von meinen Eltern gehört, doch die hatten nicht den gleichen Effekt wie Khalifas Buch. Ich meine, ich wusste immer wie schlecht die Assad-Familie war, aber dieses Ausmaß der Folter und Unterdrückung war schlimmer, als ich es mir je vorgestellt habe”.

Ammar war sehr enthusiastisch, als der Aufstand in Syrien begann und er fühlte, dass fünfzig Jahre Depression und Angst ein Ende nehmen würden. Es gab damals eine Fernsehsendung über Lebensziele, die Ammar manchmal sah. Eine Folge handelte von der Möglichkeit einen positiven Einfluss auf die Welt zu haben. Ammar begann von dem Land zu träumen, in dem er leben könnte, wenn Syrien anders regiert würde.

„Mein wahres Leben begann, als ich anfing von den Chancen zu träumen, die ich nie hatte. Die erste Demonstration haben wir in meiner Heimatstadt Moaddamiyeh organisiert und ich habe mich geehrt gefühlt, von Anfang an Teil der syrischen Revolution zu sein. Darauf werde ich immer stolz sein.”

Obwohl die Demonstrationen im Jahr 2011 völlig friedlich verliefen, verwendete das Regime vom ersten Tag an Gas und Elektroschocker im Einsatz gegen die Demonstranten. Später wurden Dutzende von Menschen festgenommen und die Einsatzkräfte des Regimes begannen auf Demonstranten zu schießen. Sie richteten schreckliche Massaker an. Im Jahr 2012 bildete sich eine bewaffnete Bewegung, nachdem das Regime Razzien und Hinrichtungen von Hunderten von Zivilisten durchgeführt hatte.

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Eine Demonstration im Jahr 2011 in Moaddamiyeh. Foto: Privat

„Es war hart und anstrengend. Nachdem meine beiden Brüder verhaftet worden sind, konnte ich Tage und Nächte lang nicht zu meinem Haus zurückkehren. Ich floh von einem Ort zum anderen um dem Geheimdienst zu entkommen. Es machte mir nichts aus und nichts konnte mich aufhalten. Diese Revolution war mein Traum und ich sah eine Perspektive, dass dieser Traum wahr wird!“

Im Jahr 2011 saß Ammar zum ersten Mal auf den Schultern seines Freundes, Parolen schreiend, die die anderen Demonstranten nachsprechen sollten.

„An diesem Tag hat der Geheimdienst achtundvierzig von uns verhaftet. Es war riskant, aber wenn ich zurückdenke an all das, was passiert ist, glaube ich, dass ich den gleichen Weg immer wieder wählen würde.”

Ammar rückte später in den Mittelpunkt der internationalen Medien, als er in Moaddamiyeh Zeuge zweier schrecklicher Massaker wurde. Während des ersten Massakers versteckte Ammar eine kleine Kamera auf dem Dach eines Gebäudes. Das ermöglichte Al-Jazeera sieben Stunden lang live zu übertragen, was die Kräfte des Regimes in der Stadt anrichteten. So etwas zu tun war ein echtes Risiko und bewirkte letztendlich nichts. Mehr als vierhundertfünfzig Zivilisten wurden getötet, niedergemetzelt und verbrannt.

„Ich erinnere mich mit einem Freund in einem sehr kleinen Raum zu sein, während die Milizen des Regimes in der Lage waren, all die Orte um uns herum zu betreten. Durch ein kleines Loch in der Wand konnten wir alles sehen, was draußen passierte. Es war schrecklich und das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Ich habe gesehen, wie ganze Familien hingerichtet wurden. Schließlich zogen sie wieder ab und es glich einem Wunder, dass wir diesen Tag überlebt haben. Wir gingen hinaus, um die Leichen zu begraben. Es waren Dutzende!“

Die Freie Syrische Armee der Rebellen begann in der Stadt zu wachsen. Viele Bürger hatten erkannt, dass nichts das Regime davon abhalten würde, weitere Massaker zu begehen. Der Gemeinderat von Moaddamiyeh wurde gegründet, eine Zivilverwaltung, deren Aufgabe es ist, die Zivilisten in Moaddamiyeh zu unterstützen. Ammar steuerte einen großen Teil der Kommunikation mit den Vereinten Nationen, um humanitäre Hilfe in die Stadt zu holen, nachdem sie von Assads Regime belagert worden war. Aber es scheint, dass Moaddamiyeh noch viel mehr verlieren musste bis die Vereinten Nationen in der Lage waren zu handeln.

Fortsetzung folgt.

Ameenah A. Sawwan ist eine syrische Aktivistin und Journalistin aus Moaddamiyeh. Sie macht in ihren Texten auf Menschenrechtsverletzungen in den Krisengebieten Syriens aufmerksam. Ihre Augenzeugenberichte des Giftgasangriffs von 2013 waren Teil einer großen Aufklärungskampagne in den USA. Ameenah A. Sawwan bringt Geschichten aus dem Inneren Syriens ans Licht und zeigt uns Seiten ihres Heimatlandes, die heute kaum mehr sichtbar sind.
Aus dem Englischen: Anna-Lena Hunold

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