Ein durch Assad-Truppen zerstörtes Klassenzimmer in einer Schule in Moaddamiyeh. Moaddamiyeh 2015. Foto: Mahmoud Dawn
Ein durch Assad-Truppen zerstörtes Klassenzimmer in einer Schule in Moaddamiyeh. Moaddamiyeh 2015. Foto: Mahmoud Dawn

Through Their Voices: Die Stimme der Lehrerin

Through Their Voices ist eine Interviewserie mit zehn syrischen Aktivisten aus der belagerten Stadt Moaddamiyeh, westlich von Damaskus. Die Stimme der Lehrerin gehört Rasheeda Dawood, die von ihrem Alltag mit Kindern in der Krisenregion berichtet.

Von Ameenah A. Sawwan, 20.06.2016

Moaddamiyeh war ein früher Hotspot für die Anti-Assad-Demonstrationen und der darauffolgenden Regierungsunterdrückung. Die Menschen leiden seit vier Jahren unter der Belagerung durch das Assad-Regime und wurden im August 2013 mit chemischen Waffen angegriffenen. Trotz aller Gewalt, die ihnen bis heute widerfährt, haben diese Aktivisten den Glauben an den Frieden auch nach fünf Jahren der Revolution nicht verloren. Es ist höchste Zeit, dass ihre Stimmen Gehör finden. Ihre Worte reflektieren ihre Anstrengungen und Hoffnungen. Die Stimme des Lehrerin ist der zweite Teil der Serie.

Rasheeda Dawood ist Grundschullehrerin in Moaddamiyeh. Sie wuchs in einer gebildeten Familie auf. Ihr Vater und ihre Onkel wussten schon immer über das wahre Gesicht der Assad-Familie Bescheid, was sie immer wieder ins Visier des Geheimdienstes geraten ließ. Einige ihrer Verwandten wurden mehrmals aus unbekannten Gründen verhaftet.

Während der wöchentlichen Familienessen gaben Rasheeda und ihre Verwandten vor, eine ganz gewöhnliche Familie zu sein, aber in Wirklichkeit boten diese Treffen Gelegenheit, über die Politik in Syrien und im Nahen Osten zu diskutieren.

„Diese Treffen erlaubten uns, in einer sicheren Umgebung darüber zu sprechen, was uns beschäftigte und was wir gerne ändern wollten. Obwohl wir wussten, dass es sehr schwierig ist in Syrien wirklich etwas zu verändern. Die Assad-Familie regiert seit Jahrzehnten. Sie steuert alle zentralen Einrichtungen in Syrien, die Armee und die Geheimdienste. Ich glaube, dass wir in Syrien möglicherweise mehr Gefängnisse des Geheimdienstes als Schulen haben.“

Seit Bashar Al-Assad in Syrien regiert, hat sich für Rasheeda und ihre Familie nichts geändert. All die hoffnungsvollen Klischees über ihn, den jungen, gebildeten Arzt, machten letztendlich keinen Unterschied für sie. Als Bashars Vater im Jahre 2000 starb, wurde die Verfassung geändert, um zu ermöglichen, dass der gerade mal 34-Jährige regieren durfte. Bis dahin musste der gewählte Präsident mindestens vierzig Jahre alt sein. Er organisierte Wahlen, bei denen er der einzige Kandidat war. Die Syrer konnten zwischen Bashar Al-Assad und Bashar Al-Assad wählen!

Rasheeda arbeitet seit 1981 als Lehrerin. Während ihrer langjährigen Anstellung an einer staatlichen Schule wurde sie mehrere Male zum Geheimdienst beordert und musste Fragen zu ihrer Einstellung und ihren Ansichten beantworten.

Von Beginn der Revolution an haben Rasheeda und ihre Schwester keine einzige Demonstration in Moaddamiyeh verpasst. Sie versuchten auch andere Frauen in der Stadt zu ermutigen, ihre Stimmen zu erheben und Teil der friedlichen Bewegung zu werden.

„Es ist nun schon fünf Jahre her, dass ich das erste Mal an einer Demonstration teilnehmen und Freiheit! Freiheit! rufen konnte, aber immer wenn ich eine Demonstration sehe, fühle ich mich wieder genau wie damals. Es sind nun schon fünf Jahre, aber wir wollen immer noch rausgehen und die gleichen Slogans rufen. Das wird sich nie ändern!“

In den folgenden Jahren organisierten sie Treffen für Frauen und junge Mädchen, bei denen sie über die Situation diskutierten und ihre Rolle bei den Demonstrationen und anderen Anti-Assad-Aktivitäten besprachen. Während dieser Zeit hat Rasheeda nicht aufgehört zu unterrichten. Für sie ist ihre Tätigkeit als Lehrerin ein Teil ihres Kampfes.

Auch die Schüler von weiterführenden Schulen organisierten ihre eigenen Demonstrationen in Moaddamiyeh, die jeden Tag nach der Schule stattfanden. Rasheeda hat sich Sorgen um die jungen Studenten gemacht. Sie wusste zwar, dass sie sie nicht stoppen konnte, aber sie konnte zumindest ein Auge auf sie haben. Mehrmals gelang es Rasheeda Schüler davor bewahren, durch Milizen des Regimes verhaftet zu werden.

„Einmal packte ich einen Jungen bei seiner Kleidung und weigerte mich, ihn von diesen Monstern mitnehmen zu lassen. Ich schrie und ließ ihn nicht los. ‘Lassen Sie meinen Sohn! Lassen Sie ihn sofort in Ruhe!‘ Der Offizier des Geheimdienstes erwiderte wütend, dass er schon mehrere Male gesehen habe, wie ich behauptete, die Mutter eines Kindes zu sein, dass sie mitnehmen wollten. Er fragte mit einem sarkastischen Ton: ‘Sind Sie die Mutter aller Kinder hier?’ Und ich antwortete: ‘Ja, bin ich! Alle Schüler hier sind meine Kinder!’“

Obwohl Rasheeda die Möglichkeit gehabt hätte Moaddamiyeh zu verlassen, bevor die Belagerung Ende 2012 mit heftigen Mitteln durchgesetzt wurde, weigerte sie sich dies zu tun. Sie glaubte, dass sie eine Botschaft zu überbringen hatte und sie schwor sich selber, diese Kinder zu unterrichten und sich um sie zu kümmern. Egal wie schwierig die Situation werden würde.

„Diese Kinder sind die Zukunft Syriens. Sie sind das wichtigste Element der syrischen Gemeinschaft und es ist ihre Zukunft, für die wir demonstriert haben. Wir wollen nicht, dass sie eine dritte Generation der Assad-Familie ertragen müssen!“

Nach der Zerstörung vieler Gebäude haben Rasheeda und ihre Kollegen die Schulen in Moaddamiyeh wiedereröffnet. Rasheeda unterrichtet seither ehrenamtlich.

„Das Regime hat die meisten Schulen zerstört, weil sie für sie eine Bedrohung darstellen. Wir haben die Schulen mit den wenigen Ressourcen, die wir hatten, wieder aufgebaut und können nun wieder Unterricht geben. Die Menschen hier sind nicht aufzuhalten.“

Rasheeda unterrichtet zurzeit vierzig Erstklässler. Etwa fünfzehn ihrer Schüler haben ein Elternteil verloren oder mitansehen müssen, wie ihre Eltern vom Assad-Regime verhaftet wurden. Jeden Tag versucht Rasheeda diesen traumatisierten Kindern zu helfen.

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Eine Schulklasse in Moaddamiyeh, einem Vorort von Damaskus. Moaddamiyeh 2015. Foto: Mohamad Noor

„Es geht nicht mehr nur um Unterricht, die Kinder brauchen auch psychologische Betreuung. Sie brauchen Liebe und eine Umgebung, in der sie sich sicher fühlen können. Sie bekommen jedoch leider manchmal nicht die Aufmerksamkeit, die sie brauchen, weil auch ihre Eltern unter einem Trauma leiden. Die Kinder hungern, leiden unter Traumata und Gewalt und sie haben viel Bildung verpasst. Es gibt einiges zu tun.“

Einer ihrer Schüler hat mitansehen müssen, wie sein Vater während der Massaker 2012 von Assads Kräften getötet wurde. Das Kind hat viel Zeit mit Rasheeda verbracht und nie mit seinen Altersgenossen spielen können. Der Junge malt sich unerlässlich Racheszenarios aus und hält sie für die Realität. Er erzählt Rasheeda Geschichten wie diese: ‘Gestern habe ich mir eine Waffe besorgt und bin damit zur Front gegangen. Dort habe ich einen Soldaten gesehen und ihn erschossen, um meinen Vater zu rächen’, oder er erzählt wechselnde Szenarios von dem Tag, an dem sein Vater getötet wurde: ‘Weißt du, an diesem Tag wollten sie meinen Vater umbringen. Ich habe sie aber aufgehalten. Ich habe ein Messer aus der Küche geholt und sie alle umgebracht.’ Rasheeda glaubt fest daran, dass sie die Gewalt mit Liebe besiegen kann.

„Ich habe mich für die letzten sechs Monate um dieses Kind gekümmert und denke, dass es recht lange dauern wird, bis es ihm wieder besser geht. Ich bin jedoch sehr stolz auf das, was wir inzwischen schon erreicht haben. Die Geschichten, die er sich ausdenkt, sind weniger gewalttätig und er hat einige Versuche gemacht, mit den anderen Kindern in der Schule in Kontakt zu treten. Wir sind noch nicht am Ziel angekommen, aber ich hoffe, dass wir seiner Besserung Stück für Stück näher kommen.“

Das Unterrichten von traumatisierten und hungernden Schülern belastet Rasheeda und ihre Kollegen sehr. Sie haben den Lehrplan angepasst und versuchen durch stetiges Wiederholen bei ihren Schülern eine solide Basis an Wissen aufzubauen.

Eines Tages kamen humanitäre Helfer nach Moaddamiyeh und brachten Kekse für die Kinder. Einige der Kinder wollten während der Pause nicht zum Spielen rausgehen, weil sie Angst hatten, die Lehrer würden ihnen die Kekse wegessen. Rasheeda hörte die Kinder darüber reden und versicherte ihnen mit einem breiten Lächeln im Gesicht, dass sie die Kekse nicht anrühren würde.

„Das war sehr traurig und ich versuchte nicht zu weinen. Es bricht mir das Herz, dass unsere Kinder so viel Angst haben ihr Essen zu verlieren. Sie denken ständig an Essen und kommen wegen Unterernährung und Vitaminmangel mit bleichen Gesichtern zur Schule.“

Viele Kinder besuchen Rasheeda bei ihr zu Hause in der Hoffnung, dass sie etwas zu Essen hat, um ihre leeren Bäuche zu füllen.

“Einmal kam eine meiner Schülerinnen zu mir nach Hause. Sie war sehr hungrig und noch bevor sie etwas sagen konnte, gab ich ihr meine Tagesration Bulgur. Sie war so ausgehungert, dass sie sogar den Teller ableckte. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nichts Anderes hatte, was ich ihr geben konnte. Ich umarmte sie und sie sagte ‘Ich liebe Dich! Du bist die beste Lehrerin der Welt!’ Nach 56 Jahren auf dieser Erde hätte ich nie gedacht, einmal so etwas durchmachen zu müssen. Ein verhungerndes Kind zu sehen, aber nichts tun zu können, das ist reine Folter.

Nach allem was passiert ist, versuche ich weiterzumachen, Liebe zu geben und eine gute Zuhörerin für vierzig Kinder zu sein. Die Kinder sind die Liebe meines Lebens. Ich wünschte nur, ich könnte ihnen mehr und unter besseren Umständen helfen. Ich sage immer zu ihnen, dass sie werden können was sie wollen – egal was passiert. Tief in mir drin wünsche ich mir, dass die Welt Assad niemals unterstützt hätte. Alles was passiert ist, wäre dann nicht so gekommen. Aber trotz allem kann ich die Zukunft hell in den Augen der Kinder strahlen sehen. Sie sind klug, intelligent, kreativ und stark und das trotz all der schlimmen Umstände, mit denen sie leben müssen. Und was noch wichtiger ist: Sie sind die Zukunft und wir müssen uns um sie kümmern.“

In zwei Wochen erscheint an dieser Stelle die dritte Folge der Reihe Through Their VoicesDie Stimme des Sanitäters, ein Interview mit Odai Mohammad, der davon erzählt, wie er vom Jura-Studenten zum medizinischen Assistenten wurde.

Bereits erschienen sind Die Stimme des Träumers (1) und Die Stimme des Träumers (2).

Ameenah A. Sawwan ist eine syrische Aktivistin und Journalistin aus Moaddamiyeh. Sie macht in ihren Texten auf Menschenrechtsverletzungen in den Krisengebieten Syriens aufmerksam. Ihre Augenzeugenberichte des Giftgasangriffs von 2013 waren Teil einer großen Aufklärungskampagne in den USA. Ameenah A. Sawwan bringt Geschichten aus dem Inneren Syriens ans Licht und zeigt uns Seiten ihres Heimatlandes, die heute kaum mehr sichtbar sind.

Aus dem Englischen: Anna-Lena Hunold

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