Kurdisches Brot unterm Oldenburger Feigenbaum

Bahar kam Ende der Achtziger nach Deutschland. Bei einem Mittagessen spricht sie mit ihrer Cousine über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das Leben in der êzîdischen Diaspora und verrät, weshalb sie Frida Kahlo bewundert.

Fotos von Gine Seitz

Von Leyla Yenirce, 05.11.2018

Fotos von Gine Seitz

Wir kochen von Leyla Yenirce mit Bahar. Foto: Gine Seitz

Die Zutaten liegen fein geordnet auf der Arbeitsfläche, die drei Kinder sind noch in der Schule, Ehemann Bayram kehrt erst am späten Nachmittag von der Arbeit zurück. Bahar macht sich gerade noch die Haare, als ich durch die Tür komme. Heute backt sie für uns „Nanê Sêle“, Brot vom Blech. Die Zubereitung des kurdischen Hefeteig-Gerichts brachte ihre Mutter ihr bei. Bahar serviert es mir und Gine Seitz, der Fotografin, heute mit zwei verschiedenen Füllungen.

Die Sonne scheint in die helle Küche, in der überall zu erkennen ist, dass hier eine junge Familie wohnt: Von der Decke baumeln Girlanden vom letzten Kindergeburtstag, an der Wand hängt ein Kalender mit den Terminen aus den Sportvereinen. Bahar wohnt schon seit über zwanzig Jahren in Oldenburg. Das große Haus hat die Familie vor sieben Jahren bauen lassen. Die 37-jährige Krankenschwester ist im kurdischen Gebiet der Türkei geboren und 1989 nach Deutschland geflohen, als die Repressionen des türkischen Staates gegenüber den Kurd*innen zu groß wurden. Als êzîdische* Kurd*innen wurden sie nicht nur politisch, sondern auch religiös diskriminiert. Für ärztliche Behandlungen mussten sich die Frauen als Muslima ausgeben, in der Schule durfte nur türkisch, aber kein kurdisch gelehrt werden und die muslimischen Nachbarn lehnten ab, von ihren Gerichten zu essen.

Wir kochen von Leyla Yenirce mit Bahar. Foto: Gine Seitz
Wir kochen von Leyla Yenirce mit Bahar. Foto: Gine Seitz

Bahar beginnt von ihrer Flucht zu erzählen, während sie den Hefeteig für das Nanê Sêle vorbereitet. Sie war als Älteste von acht Geschwistern, damals gerade neun Jahre alt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion floh sie mit ihrer Familie von Istanbul über Österreich nach Deutschland. „Wir sind nach Oldenburg gegangen, weil wir hier Verwandte hatten. Viele Êzîden waren als Gastarbeiter hierher gekommen, deswegen gab es hier schon eine Gemeinschaft. Man geht dorthin, wo man Leute kennt, damit man auch jemanden zum Reden hat“, erzählt sie. Ihre Geschwister wohnen in unmittelbarer Nähe. Sie fühlt sich wohl In Oldenburg. Die êzîdische Gemeinschaft kann hier, anders als in der Türkei, im Irak oder in Syrien, in Frieden leben, es gibt anders als in ihrer Heimat sogar ein êzîdisches Gemeindehaus.

In einem Frida-Kahlo-T-Shirt, die Haare zu einem lockeren Zopf gebunden, fängt Bahar an, den Teig zu kneten. „Frida Kahlo war Revolutionärin und Kommunistin, beides Dinge mit denen ich mich identifizieren kann. Außerdem mag ich ihren starken Ausdruck“, sagt sie. Das Nanê Sêle, das Bahar zubereitet, ist ein klassisches kurdisches Gericht und im Grunde genommen ein flaches Weißbrot. Der Teig besteht aus Mehl, Hefe, Salz, einer kleinen Prise Zucker, einem Schuss Milch und warmem Wasser. Bahar kocht nach Gefühl: „Einmal habe ich für eine Kollegin das Rezept aufgeschrieben und alles vorher abgemessen. Das war ungewohnt“, erzählt sie, während sie mit ihren Händen den Hefeteig in einer großen Schüssel zu einer Masse verarbeitet. Vorher hat sie einen Schuss Öl in den Teig gegeben, damit er beim Kneten nicht zu stark an den Händen klebt. „Als älteste Schwester musste ich früh viel Verantwortung tragen, nicht nur bei der Erziehung meiner Geschwister, sondern auch beim Kochen. Das hat mich zu einer sehr selbstständigen Person gemacht, auch wenn es oft sehr herausfordernd war.“
Ihr früh entwickeltes Organisationstalent zeigt sich nicht nur in der Küche. Neben der Erziehung dreier Kinder und dem Haushalt arbeitet sie in Teilzeit in einer Einrichtung für psychisch erkrankte Menschen.

Fast Food oder ein schnelles Rührei gibt es nur ausnahmsweise, wenn sie mal übermüdet von der Nachtschicht kommt. „Ich kannte es früher auch nicht anders. Als wir von der Schule kamen, war die erste Frage an unsere Mutter: Was gibt es heute zu essen? Ich möchte das meinen Kindern weitergeben.“

Ihre älteste Tochter Yezda ist zehn, so alt wie Bahar, als sie anfing, ihrer Mutter in der Küche auszuhelfen. Yezda jetzt schon mitkochen zu lassen, kommt für Bahar aber nicht infrage. „Ich möchte, dass meine Kinder Kinder bleiben können. Abgesehen davon, dass ich es ihr auch noch nicht zutraue“, sagt sie lachend. Bahar selbst musste früher nicht nur beim Kochen helfen, sondern den Eltern auch als Dolmetscherin in der Bürokratie zur Seite stehen. Heute hätten die Kinder anderen Stress: Schule, Hausaufgaben, Vereine – ein voller Tag.

Bahar hat die Uhrzeit genau im Blick. Nachdem sie den Teig zu Ende geknetet und zum Ruhen mit einem Küchentuch abgedeckt hat, setzt sie einen Kaffee auf. „Der Teig muss 45 Minuten lang ziehen, in der Zwischenzeit machen wir Kaffeepause und bereiten die verschiedenen Füllungen zu“, erklärt sie.

Nanê Sêle wird traditionell ohne Füllung gegessen. Die dünnen Fladen werden direkt vom Blech in die Hand genommen und verspeist. In Kurdistan gab es manchmal selbst gemachtes Tomatenmark oder ein bisschen Butter darauf. Die reichhaltigeren Füllungen kamen erst in Deutschland dazu, weil hier andere Lebensmittel zugänglich sind als damals, als sie noch autark wirtschaftende Bauern auf dem kurdischen Land waren.

Bahar macht heute zwei Füllungen: eine vegetarische mit Feta und Porree und eine rote Hackfleischfüllung mit Paprika, Zwiebeln, Petersilie, Tomaten- und Paprikamark. Gewürzt wird mit Salz und Pfeffer. „Die Kinder essen lieber die Hackfleischfüllung, mein Mann und ich mögen die vegetarische“, erzählt Bahar, während sie das Hack brät sie. Danach gibt sie Zwiebel, Paprika, Petersilie und die restlichen Gewürze dazu. Ein herzhafter Duft macht sich in der Küche breit. Die erste Füllung ist schnell fertig und Bahar krümelt schon mal den Feta in eine Schüssel. Den Porree gibt sie im Anschluss klein geschnitten und roh dazu.

„Früher hatten wir all diese Zutaten nicht“, erklärt Bahar. „Da wurde mit dem gekocht, was man hatte. Geschmeckt hat es trotzdem.“ Heute kommt das Gemüse nicht aus der eigenen Landwirtschaft, sondern aus dem Discounter. Das bietet andere Möglichkeiten. Bahar probiert gerne aus oder verfeinert ihre Rezepte. „Porree in Nanê Sêle zu geben, das war meine eigene Idee“, erzählt sie stolz. Wenn es eine Sache gibt, die ihr kein deutscher Supermarkt ersetzen kann, dann ist es die selbst gemachte Butter ihrer Großeltern: „Als Kinder sind wir mit einem Stück Brot zu unseren Großeltern gegangen und sie haben uns mit den Händen Butter draufgeschmiert. Das war unser Frühstück und damit waren wir total zufrieden. Diesen Geschmack kann man hier nirgendwo kaufen.“

Bevor wir unseren Kaffee trinken, rollt Bahar erste kleine Kugeln aus der weichen Teigmasse. Jede Kugel wird dann später zu einem Nanê Sêle verarbeitet. Dazu bestreicht sie die leere Arbeitsplatte mit Öl und legt schon mal ein paar Kugeln darauf. Während der Teig noch ruht, setzen wir uns in den Garten, wo Bahar uns stolz ihren Feigenbaum präsentiert. Fotografin Gine kann kaum fassen, dass er in Oldenburg wächst. Ein Verwandter der Familie habe Stecklinge eines Feigenbaums von einem Heimatbesuch in der Türkei mitgebracht, und einen davon züchte Bahar in ihrem norddeutschen Garten, sagt sie und zeigt uns die ersten noch grünen Früchte am Baum. Ihrer sei noch klein im Vergleich zu dem ihrer Tante, die ein paar Straßen weiter wohnt. Dort reiche der Baum schon fast in den zweiten Stock ihres Hauses. Aber nicht nur der Feigenbaum ist ein kleines Stück Kurdistan in der niedersächsischen Mittelstadt, auch in Bahars Küche findet sich vieles wieder, was auf ihre kurdische Identität hinweist. Ihr wichtigstes Küchenutensil ist ein handgeschnitzter Kochlöffel aus der Türkei, den ihr ihre Mutter geschenkt hat und den sie beim Kochen immer benutzt. Das Lieblingsstück ist prominent auf Bahars Fensterbank positioniert, wo es sich den Platz mit einem blauen Schneebesen aus Plastik teilt.

Bahar ist gut darin, den Überblick zu behalten. Nur so konnte sie das alles unter einen Hut bringen: die Kinder zu versorgen und gleichzeitig zwei Jahre für das psychosoziale Zentrum zu dolmetschen. „Das musste ich richtig gut managen, damit die Kinder nicht das Gefühl haben, vernachlässigt zu werden. Ich habe an jedes Essen noch kleine Notizen gemacht, damit jeder weiß, wann das Dressing wo draufkommt oder wann das Essen wie heißgemacht werden muss“, erzählt sie uns. An ihrer Stimme wird deutlich, dass diese Zeit keine einfache für sie war. Sie hat psychotherapeutische Sitzungen mit traumatisierten und vor dem Krieg geflohenen Menschen vom Kurdischen ins Deutsche übersetzt. Irgendwann wurde die psychische Belastung zu hoch. „Ich war hektisch und gestresst und mir ging es gesundheitlich nicht so gut. Man kann die negativen Geschichten, die man hört, nicht einfach ignorieren, es macht was mit einem“, sagt Bahar ein wenig bedrückt, aber gefasst, während sie anfängt, die ersten Nanê Sêle mit einem Nudelholz zu rollen und mit Hackfleisch zu füllen.

Als der sogenannte Islamische Staat im August 2014 in den Nordirak einmarschierte und einen Genozid an der êzîdischen Bevölkerung ausübte, sind viele Êzîd*innen dahin geflohen, wo es bereits eine diasporische Gemeinschaft gab, zum Beispiel nach Oldenburg. Für die bereits hier lebenden Êzîd*innen hat sich dadurch auch einiges verändert. Nach zwanzig Jahren eines Lebens in Deutschland treffen hier nun verschiedene Generationen Geflüchteter aufeinander. Die Êzîd*innen aus der Türkei haben sich mittlerweile zum größten Teil angepasst und an die neue Heimat gewöhnt. Für viele der Geflüchteten aus dem Nordirak ist das Leben hier noch sehr fremd und das zeigt sich an unterschiedlichen Verhaltensweisen. „Der richtige Ansatz ist auf jeden Fall nicht, die Progressivität oder die Anpassung der einen zu glorifizieren. Bestimmte Prozesse brauchen Zeit, und wenn man anderen das Gefühl gibt, dass sie nicht willkommen sind, kann ich verstehen, dass sie sich nicht anpassen wollen“, sagt Bahar.

Sie brät die gefüllten Teigtaschen nun in einer elektronischen Pfanne an: „Früher hat man tatsächlich nur ein heißes Blech über eine Feuerstelle gelegt und darauf das Brot gebacken. Ich benutze den elektrischen Pizzabräter, den ich in Deutschland gekauft habe.“

Schnell riecht es im ganzen Haus wie in einer Bäckerei. Der Duft weckt meinen Heißhunger. Bahar beginnt nun mit den vegetarischen Fladen, während ich den Tisch decke. Miran, das älteste ihrer Kinder, kommt jeden Moment nach Hause. Yezda müsste auch bald da sein, nur die Jüngste, Peri, ist noch bis zum Nachmittag im Kindergarten. Mittag gegessen wird meistens gemeinsam vor dem Fernseher. Zwischen Schule, Hausaufgaben und Vereinen ist es die einzige Stunde des Tages, zu der die Kinder sich ausruhen können. Bahar weiß, dass viele Deutsche Essen vor dem Fernseher kritisch beurteilen, aber ihr ist es wichtig, dass die Kinder auch einfach mal entspannen können: „Wir essen abends zusammen, wenn Bayram kommt, und erzählen einander vom Tag. In der Stunde vor dem Fernseher können die Kinder mal runterkommen und die Kinderserie Pfefferkörner gucken.“ Sie gesellt sich dann dazu, macht ein Nickerchen oder schaut mit ihren Kindern die Sendungen im Kinderkanal. Heute Mittag wird aber gemeinsam am Tisch gegessen, da Gäste im Haus sind.

Die Kinder sind da, endlich wird gegessen. Ich verschlinge auf Anhieb einen Nanê Sêle mit Hackfleisch und gleich noch einen mit Käse und Porree. Ein Gaumenschmaus. Dazu gibt es einen Quarkdip, den Bahar noch rasch mit einer Schalotte, Dill und Schnittlauch verfeinert hat. Ich dippe den Fladen in den Quark und beiße hinein. Lecker! Das Gericht wird mit der Hand gegessen. Miran ist schon bei seinem vierten, Gine und ich sind nach vielen schnellen Bissen pappsatt. Als wir abdecken, kommt Nachbarin Waldtraud durch die Tür. Die 73-jährige Witwe wohnt direkt gegenüber und ist eine Mischung aus Familienmitglied und bester Freundin für Bahar geworden. „Der Kontakt zu Waldtraud tut mir gut. Wir sind füreinander da und unterstützen uns gegenseitig in unserem Alltag“, erzählt sie gerührt. Ich sitze gesättigt und zufrieden am Tisch, während Waldtraud mir über den Kopf streicht. Sie kennt mittlerweile den Großteil der Familie. Auch ich, Bahars Cousine, bin ein Teil davon.

*Im Gegensatz zur vom Duden empfohlenen Schreibweise „Jesiden“ wird in diesem Text die Selbstbezeichnung gemäß des Zentralrates der Êzîden und der Gesellschaft Ezidischer Akdademiker*innen verwendet.

Du möchtest Nane Sêle zubereiten?

Hier das Rezept!

Für 20 bis 25 Stück, 6-7 Portionen

Zutaten für den Teig:

1 Kilo Mehl
1 Packung frische Hefe
650ml Wasser
ca. 2 Teelöffel Salz
Sonnenblumenöl

Zutaten für die Füllung:
600 Gramm Hackfleisch
200 Gramm Zwiebeln
150 Gramm Paprika
Öl
Salz
Pfeffer
Paprikapulver
Petersilie
Paprika- oder Tomatenmark


Zubereitung:
Mehl, Hefe, Wasser und Salz in einer Schüssel verrühren. Den Teig schön durchmischen und kneten, zum Schluss mit etwas Öl kneten, damit er nicht an den Händen klebt. An einem ruhigen Ort abgedeckt für eine Stunde gehen lassen.

Zwiebeln schälen und kleinschneiden, Paprika und Petersilie schneiden. 
Hackfleisch in Öl anbraten, nach ein paar Minuten Zwiebeln, Paprika und Petersilie hinzufügen. Zum Schluss Paprika- oder Tomatenmark hinzufügen. Fünf Minuten braten.

Den Teig mit Hilfe von Öl oder Mehl auf einer großen Fläche ausrollen. Die Füllung auf eine Hälfte des Teiges verteilen, die andere Hälfte einklappen, um eine Teigtasche zu formen. Die Teigtasche nehmen und in die Pizzapfanne legen. Von beiden Seiten circa 2-3 Minuten anbraten, bis der Teig leicht bräunlich wird. Die Dauer ist abhängig von der Temperatur des Geräts, 200-230 Grad werden empfohlen.
Guten Appetit!
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