Through Their Voices: Die Stimme des Chronisten

In der siebten Folge unserer Interviewserie mit syrischen Aktivisten aus der belagerten Stadt Moaddamiyeh, westlich von Damaskus, geht es um den Chronisten Abdulrahman. Er erzählt, warum es ihm besonders wichtig ist, die Vorkommnisse in der belagerten Stadt, mithilfe von Stift und Papier, festzuhalten.

Von Ameenah A. Sawwan, 29.08.2016

Moaddamiyeh war ein früher Hotspot für die Anti-Assad-Demonstrationen und der darauffolgenden Regierungsunterdrückung. Die Menschen leiden seit vier Jahren unter der Belagerung durch das Assad-Regime und wurden im August 2013 mit chemischen Waffen angegriffenen. Trotz aller Gewalt, die ihnen bis heute widerfährt, haben diese Aktivisten den Glauben an den Frieden auch nach fünf Jahren der Revolution nicht verloren. Es ist höchste Zeit, dass ihre Stimmen Gehör finden. Ihre Worte reflektieren ihre Anstrengungen und Hoffnungen. 

Beitragsbild Abdulrahman Abdulrahamn bei seinem Freiwilligendienst im syrischen Flüchlingslager im Libanon 2014. Foto: privat
Abdulrahman bei seinem Freiwilligendienst im syrischen Flüchtlingslager im Libanon 2014. Foto: privat

Wie alle jungen Männer in Syrien hatte auch Abdulrahman seine Träume und Ziele. Als die Syrische Revolution begann, war er 19 Jahre alt. Entsetzt verfolgte er, wie in den Nachrichten über Demonstrationen in Tunesien und Ägypten berichtet wurde. Zu diesem Zeitpunkt war er davon überzeugt, dass die Lage in vielen anderen arabischen Ländern schrecklich war, hielt dergleichen in Syrien jedoch für völlig undenkbar.

Als er von der ersten Demonstration in Moaddamiyeh erfuhr, konnte er es zunächst nicht glauben und machte sich auf den Weg, um sich sein eigenes Bild von der Situation zu verschaffen.

„Ich stand vollkommen schockiert da und beobachtete. Die Demonstration hatte kaum angefangen, da tauchten die Kräfte des Geheimdienstes auf, attackierten mit Gas, schlugen und verhafteten die Demonstranten. Ich sah, wie ein Freund von mir, durch Gas verletzt, zu Boden ging. In diesem Augenblick war es für mich vollkommen ausgeschlossen, einfach am Rand des Geschehens stehen zu bleiben. Ich lief zu ihm, stützte ihn und half ihm abzuhauen, bevor sie ihn erwischen und verhaften konnten. Das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich mitmachen und die anderen im Kampf gegen die Unterdrückung unterstützen würde.“

Auf dem Weg nach Hause dachte Abdulrahman darüber nach, weshalb so eine harmlose Demonstration zu einer solch aggressiven Reaktion geführt hatte und warum die Dinge in Syrien so gnadenlos waren. Er nahm sich vor, seinen Eltern nicht zu sagen, dass er mit der revolutionären Szene sympathisierte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ausflippen würden, wie alle anderen Eltern, die ihre Kinder mit einer langen Liste von Verboten und Tabus aufgezogen hatten. Tabu waren generell alle politischen Äußerungen, bis hin zu dem Verbot, sich öffentlich über einen Verkehrsstau zu beschweren.

„Meine Universität war in Beirut, und abgesehen davon, dass ich im ersten Jahr Jura studierte, war ich ziemlich gut im Programmieren. Damals hatten wir Semesterferien. Ich beschloss, nicht zurück an die Universität zu gehen, bis die Situation in Syrien sich wieder stabilisiert hätte. Allerdings ging ich damals davon aus, dass wir vielleicht zwei Monate demonstrieren und anschließend das Regime stürzen würden.“

Zunächst hofften die Menschen, dass Assad relativ schnell aufgeben würde, aber bald zeigte sich, dass sich die Lage in Syrien verkomplizierte. Abdulrahmans Eltern setzten ihn unter Druck und so nahm er in der Folge nur noch selten an Demonstrationen teil. Stattdessen half er, indem er Plakate und Druckvorlagen für Fahnen und Banner gestaltete.

„Mein erster Entwurf bestand aus Fotos von Assad, die ich so bearbeitete, dass er aussah wie Hitler. Die beiden sind sich sehr ähnlich. Ich veröffentlichte meine Kunstwerke online unter Pseudonym. Einige Zeit später erschossen Regierungstreue drei Demonstranten und Dutzende wurden verletzt. Die Blutflecke auf der Straße traumatisierten mich. Zehn Minuten zuvor hatten diese Jungs noch gelebt. Wir hatten gemeinsam Sprechchöre skandiert und jetzt waren sie ermordet – einfach nicht mehr da. Die Demonstration an diesem Tag war enorm groß und sehr friedlich. Nachdem ich mitgeholfen hatte, die Verwundeten zu bergen, ging ich nach Hause. Mein T-Shirt war blutverschmiert. Meine Mutter sah mich zur Tür hereinkommen und begann hysterisch zu weinen. Sie hatte von der Schießerei gehört und versucht mich zu erreichen, aber ich war nicht ans Telefon gegangen. Ich weinte nicht, ich sprach nicht, ich ging in mein Zimmer und schloss mich dort für ein paar Tage ein. Wenig später habe ich ein Bild gestaltet: Eine syrische Fahne, aus der Blut tropft.

Überall in Syrien wurde gegen die Regierung demonstriert. Abdulrahman erweiterte seine Kontakte und arbeitete mit Webdesignern und Aktivisten aus verschiedenen Teilen des Landes. Zusätzlich unterstützte er Regimekritiker mit der Verschlüsselung von Informationen und sicherem Surfen im Internet.

2012 hatten Assads Kräfte zwei brutale Massaker in Moaddamiyeh zu verantworten. Abdulrahman und seine Familie wurden Zeugen der ersten Bluttat. Beim zweiten Mal verließen sie ihr Zuhause und kamen bei Verwandten unter. Nachdem die Schergen des Regimes abgezogen waren, kehrten sie zurück und mussten feststellen, dass ihr Haus vollkommen zerstört war. Die Möbel, die Türen, alles war ruiniert. Die Eltern entschieden, Syrien zu verlassen und in den Libanon zu fliehen. Nach tagelangen Diskussionen und Streitereien beugte sich Abdulrahman dem Druck der Familie und verließ Syrien. Er hatte vor, mit seinen Eltern in den Libanon zu gehen, um dann, ohne ihre Erlaubnis, nach Syrien zurückzureisen. Unglücklicherweise konnte er seinen Plan nicht umsetzen, denn Ende 2012 begann die Belagerung der Stadt und die Zufahrten nach Moaddamiyeh wurden gesperrt.

Im Libanon lebten Abdulrahman und seine Familie in einem kleinen Dorf nahe der libanesisch-syrischen Grenze. Auch von dort aus unterstützte er seine Freunde in Moaddamiyeh, sowohl online, als auch auf jede andere erdenkliche Weise. Er entwarf Poster mit Bezug auf die aktuellen Ereignisse in Syrien, förderte juristische Kampagnen, indem er sie in sozialen Netzwerken verbreitete und erstellte grafisches Material. Außerdem firmierte er als Mitbegründer einer Kampagne zum Andenken an die Opfer, die in Moaddamiyeh bereits getötet worden waren. Er gestaltete Poster mit ihren Bildern und produzierte kurze Videobeiträge über sie.

Die libanesischen Behörden verlangten von Abdulrahman, seine Aufenthaltsgenehmigung zu erneuern. Zu diesem Zweck sollte er das Land verlassen und dann erneut einreisen. Dieser Aufforderung konnte er aus zwei Gründen nicht nachkommen. Zum einen riskierte er, bei einem Grenzübertritt wegen seiner Aktivitäten verhaftet zu werden, zum anderen drohte in Syrien der Militärdienst. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als in dem Dorf zu bleiben und sich dort vor der libanesischen Polizei zu verstecken. Hätte man ihn auf der Straße ohne eine gültige Aufenthaltsgenehmigung aufgegriffen, wäre er sofort nach Syrien abgeschoben worden.

Das Leben im Libanon empfand er als unerträglich und so suchte Abdulrahman ohne Unterlass nach einer Möglichkeit, nach Moaddamiyeh zurück zu kehren. Endlich, nach einem Jahr und fünf Monaten, gelang es ihm, während einer kurzen Zeitspanne, in der die Straßensperren aufgehoben waren.

„Es war wirklich gefährlich zurück zu gehen, aber ich hatte nichts zu verlieren. Wenigstens habe ich hier das Gefühl, in Würde zu leben und wenn ich sterbe, dann sterbe ich mit Würde. Im Libanon hingegen hatte ich drei Möglichkeiten: Ein demütigendes Leben, eine demütigende Gefangenschaft oder ein demütigender Tod.“

Als Abdulrahman zurück nach Moaddamiyeh kam, war es zunächst gar nicht so einfach, die Situation zu meistern und ohne die Grundvoraussetzungen wie Strom und Internet zurechtzukommen. Dank verschiedener Strategien, die er für sich entwickelte, arrangierte er sich jedoch mit den Zuständen.

„Es gibt keine Hauruck-Lösung für die Probleme, mit denen wir uns während der Belagerung auseinandersetzen müssen. Aber wir tun unser Bestes, um die alltäglichen Widrigkeiten zu bewältigen und es etwas erträglicher zu machen.“

Zurzeit arbeitet er als freiwilliger Helfer der örtlichen Wohlfahrt und unterstützt Familien bei der frühkindlichen Erziehung während der Belagerung. Ich fragte ihn, was es Neues gibt, außerhalb von Moaddamiyeh. Er antwortete:

„Ich denke, wir sind die Nachrichten, dementsprechend kümmern wir uns nicht darum, Nachrichten zu sehen, schließlich erleben wir alles hautnah. Manchmal hat einer von uns eine ganz schwache Internetverbindung und schnappt vielleicht ein paar Nachrichten-Fetzen auf. Dann kommt er ins Büro der Freiwilligen und erzählt es uns. Aber trotz allem bin ich froh hier zu sein. Ich lebe im Haus meiner Familie und helfe den Menschen. Wenn ich müde bin, muss ich nur an die lächelnden Kinder denken, mit denen ich arbeite, dann kommt die Kraft von ganz alleine wieder.“

Abdulrahman hofft, dass es ihm gelingt, die Familien während der Belagerung mit den zahlreichen und vielfältigen Dingen zu versorgen, die sie so dringend benötigen. Vor kurzem hat er sich ein abschließbares Notizbuch zugelegt. Er hat angefangen, sein persönliches Belagerungs-Tagebuch zu führen. Er hofft, dass seine Geschichten eines Tages irgendwo veröffentlicht werden, damit die Menschen in den anderen Teilen dieser Erde die Wahrheit über das erfahren, was in Syrien geschieht.

„Ein Tagebuch der Belagerung zu schreiben, beruhigt mich, wenn ich mich aufrege. Es gibt diesen Spruch »Mächtige Menschen schreiben Geschichte«. Also schreibe ich! Vielleicht können wir eines Tages verhindern, dass Assads Familie die syrische Geschichte, die wir gerade erleben, verfälscht. Jeder in Syrien sollte seine Geschichte aufschreiben. Es ist nicht teuer, kostet nur Papier und einen Stift. Wir machen Geschichte und wir sollten Geschichte schreiben.“

 

In zwei Wochen erscheint an dieser Stelle die achte Folge der Reihe Through Their Voices : Die Stimme der Mentorin, ein Interview mit Shams AlShami, die sich aktiv um die Jugendlichen in Moaddamiyeh kümmert und versucht, trotz der schwierigen Situation gemeinsam Pläne für die Zukunft zu schmieden.

Bereits erschienen sind Die Stimme des Träumers (1) / (2) , Die Stimme der LehrerinDie Stimme des Sanitäters, Die Stimme des Hoffnungsgebers und Die Stimme der Rückkehrerin.

 

Ameenah A. Sawwan ist eine syrische Aktivistin und Journalistin aus Moaddamiyeh. Sie macht in ihren Texten auf Menschenrechtsverletzungen in den Krisengebieten Syriens aufmerksam. Ihre Augenzeugenberichte des Giftgasangriffs von 2013 waren Teil einer großen Aufklärungskampagne in den USA. Ameenah A. Sawwan bringt Geschichten aus dem Inneren Syriens ans Licht und zeigt uns Seiten ihres Heimatlandes, die heute kaum mehr sichtbar sind.
Übersetzung aus dem Englischen: Katja Doubek

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