Als Kind hangelte Amel Ouaissa sich von einem Urlaub bei der algerischen Verwandtschaft bis zum nächsten. Das Denken in zeitlicher Begrenzung empfiehlt sie nun auch für den Umgang mit der aktuellen Pandemie.
Von Amel Ouaissa, 21.12.2020Bis vor einigen Monaten haben sich in unserer Gesellschaft wohl eher wenige vorstellen können, was es bedeutet, mit einer Pandemie zu leben. Mittlerweile sind die Angst vor Erkrankung, die Angst, das eigene Leben nicht meistern zu können, und die Unsicherheit über den weiteren Verlauf ständige Begleiter unseres Alltags geworden.
Nähe und Distanz müssen tagtäglich ausgehandelt werden. Wir sind sicherer, wenn wir Abstand zu anderen halten. Und das ist ein beunruhigender Gedanke. Auch für mich, die, introvertiert und mit einer Neigung zur Hypochondrie, diesem alles entschleunigenden Abstand auch etwas Positives abgewinnen kann.
In seinem Essay „Cultural Identity and Diaspora“ spricht Stuart Hall von der Notwendigkeit, ein schreibendes Ich im Kontext des Ortes und der Zeit zu begreifen, aus denen es erzählt. Davon, die Geschichte und Kultur, durch die dieses Ich Realität erlebt, sichtbar zu machen.[1] In unseren Worten manifestieren sich Geschichten und Kulturen, die uns eigen sind. Aus den Worten in diesem Text spricht eine Kabylin, die in Berlin zu Hause ist. Aus der Position einer Minderheit, wenn man so möchte. Nicht so privilegiert wie manche und doch privilegierter als andere.
Ich kam 1991 als Vierjährige nach Ostdeutschland. Meine Mutter war kurz zuvor in Algerien gestorben, an Asthma. Algeriens menschenunwürdiges Gesundheitssystem reflektierte zu dem Zeitpunkt auf eine fast zynische Weise die Verfassung einer Bevölkerung, die dreißig Jahre nach der vermeintlich glorreichen Revolution noch immer nach jener Menschlichkeit suchte, die hundertdreißig Jahre Kolonialismus ihr verwehrt hatten. Algeriens Gesundheitssystem hat seitdem kleine Fortschritte gemacht. Gegen eine Pandemie ist es allerdings nicht gewappnet.
Mein Vater ist in den 1980ern in die DDR migriert, um, als erster Studierter in seiner Familie, zu promovieren. Meine Mutter und ich sollten folgen, sobald möglich. In ein besseres Leben, so der Plan. Stattdessen kam nur ich.
Wir lebten damals in einer kleinen Einzimmerwohnung in Sachsen-Anhalt und mein Vater schlug sich von einem befristeten Forschungsauftrag zum nächsten. Unsere Daseinsberechtigung in diesem Land hing von dieser Lohnarbeit ab. Ich bekam nichts mit von den Existenzängsten, die meinem sanften, traurigen, wütenden Papa den Schlaf raubten. Erst vor Kurzem sprachen er und ich zum ersten Mal von diesen ersten gemeinsamen Monaten im Exil. Dass diese Existenzängste für uns gerade jetzt wieder so gegenwärtig sind, ist kein Zufall. Jetzt, da wir uns in einer Situation befinden, in der unsere in vielerlei Hinsicht mühsam angeeigneten Anpassungsmechanismen uns gar nichts nützen und wieder neue Verhaltensweisen von uns gefordert sind. Wie passt man sich einer unsichtbaren Bedrohung an?
Ich ertappe mich dieser Tage gelegentlich dabei, wie ich an diese erste Zeit in Deutschland zurückdenke. Ich fühlte mich schrecklich einsam, daran erinnere ich mich. Die Kälte setzte mir zu. Und die Distanz.
Es ist nicht einfach, einer Minderheit anzugehören. In der Realität des Kollektivs, in das ich hineingeboren wurde, ist es die Gemeinschaft, die dem Leben des Individuums Struktur und Sinn verleiht. Ich bin Tochter und Enkelin starker, praktisch unkaputtbarer Fellah[2]. Teil eines Ganzen, das Demut und Loyalität einfordert. Teil eines Ganzen, das Geborgenheit und Anerkennung verspricht.
Meine Cousinen vermisste ich am meisten. Ich war es gewohnt, dass immer mindestens eine von ihnen mir zur Seite stand. Wenn mich im Kindergarten ein frecher Junge traktierte, wenn ich vor meist selbst eingebrocktem Ärger mit den Erwachsenen die Flucht ergreifen musste oder wenn ich eine Spielgefährtin brauchte … In Deutschland, weit weg von meinen Cousinen, hangelte ich mich lange Zeit emotional von einem Algerienurlaub zum nächsten. Die Abschiede am Ende des Urlaubs sind über die Jahre nicht einfacher geworden. Der Schmerz über den Verlust der einträchtigen Gemeinschaft nicht weniger. In zeitlicher Begrenzung zu denken, hat geholfen. Das versuche ich auch in diesen Wochen und Monaten. Ich denke von einer Welle zur nächsten.
Auch hier in Deutschland sind wir nicht alle in gleichem Maße von der Pandemie betroffen. Neben Alter und Veranlagung sind hauptsächlich der gesellschaftliche Status und die ökonomische Situation ausschlaggebend dafür, ob und inwieweit ein Mensch die gesundheitlichen Auswirkungen einer Infektion mit Sars-CoV-2 bewältigen kann. Die Menschen, die schon vor der Pandemie unter prekarisierten Bedingungen leben mussten, sind auch diejenigen, die mit voller Wucht von ihren sozioökonomischen Auswirkungen getroffen werden.
Ich verstehe, dass die Maßnahmen, die Bund und Länder mehr oder weniger gemeinsam zur Eindämmung der Pandemie beschließen, bei einem nicht unbeachtlichen Teil der Bevölkerung Misstrauen und Angst hervorrufen. Es ist nicht einfach, sich in einer neuen sozialen Umgebung zurechtzufinden. Oder gar zu vertrauen.
Mühsam erkämpfte Bürger*innenrechte müssen aufmerksam verteidigt werden, das ist klar. Jede*r darf vom Grundrecht der Demonstrationsfreiheit Gebrauch machen, um Misstrauen, Angst und Verzweiflung öffentlich Nachdruck zu verleihen. Was aber passiert, wenn die räumliche Distanz, die aus den uns allen bekannten Gründen geboten ist, unsere Vorstellungen von gesellschaftlicher Nähe in schädigender Weise beeinflusst? Denn Angst und Verzweiflung suchen oft einfache Antworten. Schein-Antworten, die Verschwörungstheoretiker*innen, Reichsbürger*innen und Rechtsextreme zu geben wissen.
Es ist nicht die Pandemie, die gesellschaftliche Ungleichheiten und strukturelle Diskriminierungen verschärft. Es ist unser gemeinschaftlicher oder eben nichtgemeinschaftlicher Umgang mit ihr und den damit einhergehenden Herausforderungen. Und auch wenn diese Zeiten, die wir erleben, nicht viel Positives zu bieten haben, so könnte dies vielleicht die Gelegenheit sein, um kreative und nachhaltige Formen des Zusammenseins, der Gemeinschaft zu erproben. Kreativität und Nachhaltigkeit wird es bedürfen, wenn wir uns dieser und auch der nächsten globalen Herausforderung stellen wollen. In zeitlicher Begrenzung zu denken, hilft.
[1] Stuart Hall: Cultural Identity and Diaspora, in: Jonathan Rutherford (Hg.): Identity. Community, Culture, Difference. London, Lawrence & Wishart, 1990, S. 222.
[2] Bäuerinnen und Bauern.