© Tine Fetz
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Vertrauen in unsicheren Zeiten

Welche Rolle spielen Grundrechte in unsicheren Zeiten? Darüber wird seit Monaten öffentlich diskutiert. WIR MACHEN DAS hat die Einstellungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen erfragt. Die Ergebnisse zeigen, was für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig ist und woran es teilweise fehlt: Vertrauen.

Von Uta Rüchel, 21.12.2020

Seit Covid-19 unseren Alltag begleitet, ist das Grundgesetz in aller Munde. Es regelt die individuellen Freiheitsrechte, die zur Bekämpfung der Pandemie zeitweise eingeschränkt werden, und das wirft Fragen auf. Etwa welches Gewicht die Freiheitsrechte haben, wenn das Recht auf körperliche Unversehrtheit bedroht ist? Ob es statthaft ist, während einer Pandemie über unterschiedliche Interessen und Wertsetzungen zu streiten? Und wer entscheidet, welche Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen – also im Sinne des Grundgesetzes verhältnismäßig – sind?

All diese Fragen standen für das Projekt Demokratie? Eine Frage der Verfassung! im Raum. Also haben wir einen Fragebogen mit dem Titel Freiheit(en) in unsicheren Zeiten entwickelt. Wir wollten herausfinden, wie die Menschen im Land, wie unterschiedliche Gruppen die Freiheitsrechte definieren und in Krisenzeiten gewichten. Zwei Monate, im Juni und Juli, war unsere Umfrage online, etwa 2.000 Personen haben sie beantwortet.

Das Grundgesetz ist offensichtlich fest im Selbstverständnis der Menschen verankert. Die übergroße Mehrheit der Befragten meint: Einschränkungen von Grundrechten müssen gut begründet und jederzeit zu hinterfragen sein – selbst in Krisenzeiten. Die Entscheidungen sollten intensiv öffentlich diskutiert werden. Ebenso ist das Gemeinwohl für die meisten von zentralem Wert. Sie stimmen den Einschränkungen auch dann zu, wenn in ihrem Umfeld niemand zur Risikogruppe gehört. So weit, so gut: Der Boden, auf dem wir uns bewegen, scheint stabiler, als manche Tagesmeldung vermuten lässt. Schaut man die insgesamt ermutigenden Ergebnisse genauer an, offenbart sich jedoch eine gewisse gesellschaftliche Spannung.

Aus den Antworten auf die Frage nach den Freiheiten in unsicheren Zeiten ergibt sich – etwas verkürzt – die Einsicht: Es geht offenbar viel um Vertrauen. Um Vertrauen in die öffentlichen Institutionen, insbesondere die Bundesregierung, die Landesregierung und die Justiz, in denen oft unter hohem Druck über die aktuellen Maßnahmen entschieden wird. Denn ob diese Institutionen immer die richtigen Entscheidungen treffen – oder sogar: was überhaupt die richtige Entscheidung ist –, das weiß in einer unbekannten und krisenhaften Situation kaum jemand. Und es geht um das Vertrauen in die traditionellen Medien, die nach wie vor als vierte Macht im Staate wahrgenommen werden. Ihnen gegenüber ist darauf zu vertrauen, dass sie unvoreingenommen und umfassend berichten.

Vertrauen braucht Repräsentanz

Öffentliches Vertrauen ist niemals statisch. Es entsteht und verändert sich, wobei die öffentlichen Medien eine zentrale Rolle spielen. Die Befragung zeigt: Wer der Regierung vertraut, sieht die eigene Meinung in den öffentlich-rechtlichen Medien repräsentiert – oder umgekehrt. Wer seine Haltung in den Medien kaum oder gar nicht wiederfindet, hat weniger Vertrauen in die Institutionen – oder umgekehrt. Auch die Einschätzung, wie stark jemand sich von den Corona-Maßnahmen betroffen fühlt, ist eng verbunden mit dem Vertrauen in Regierung und Medien. Und offenbar steigt die Bereitschaft, sich einzuschränken, wenn das Vertrauen in die entscheidenden Institutionen groß ist. Wo das Vertrauen geringer ist, werden die Einschränkungen als stärker wahrgenommen oder auch abgelehnt.

Besonders ausgeprägt sind das Vertrauen in die Institutionen und die Orientierung am Gemeinwohl unter gut gebildeten Personen aus dem urbanen Milieu. Sie halten das Grundgesetz hoch und akzeptieren gleichzeitig die staatlichen Eingriffe in die Grundrechte während der Pandemie. Zu dieser Gruppe gehören laut unserer Umfrage knapp 20 Prozent der Bevölkerung. Ihnen gegenüber stehen gut 30 Prozent, die ebenfalls das Grundgesetz hochhalten, aber die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus kritisieren beziehungsweise ablehnen. Unter ihnen finden sich weniger Hochschulabsolventen, viele Personen aus kleinen Orten und viele 45- bis 65-Jährige. Dennoch ist die Gruppe insgesamt nicht gering gebildet oder streng konzentriert auf den ländlichen Raum. Zudem gibt es einen interessanten Widerspruch: Die Menschen dieser Gruppe haben im Vergleich wenig Vertrauen in die demokratischen Institutionen, wünschen sich jedoch, dass die Institutionen ihnen vertrauen, wenn es um die Einhaltung der Maßnahmen geht.

Hier offenbart sich ein gesellschaftlicher Riss. Vertrauen kann keine Einbahnstraße sein. Und die Gruppe ist zu groß, um nicht genauer nachzufragen, was da los ist oder schiefläuft. Zweifelsohne gibt es unter Menschen mit geringem Vertrauen in Institutionen eine (nicht genau zu beziffernde) Zahl, die genau das will: die Spaltung der Gesellschaft vorantreiben und ihre nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Überzeugungen mit allen Mitteln durchsetzen. Ihnen soll hier keine Aufmerksamkeit geschenkt werden. Doch für den Rest der Gruppe wäre zu ergründen: Warum halten Menschen das eigene Misstrauen für gerechtfertigt, das der anderen jedoch für demütigend?

Möglicherweise fühlen sie sich selbst misstrauisch beäugt oder erst gar nicht wahrgenommen. Etwa aufgrund der anfangs undifferenzierten und abwertenden Berichterstattung über die Proteste gegen die Maßnahmen der Regierung. Da war jenseits des Erschreckens über rechte Gesinnungen und Verschwörungstheorien kaum Platz, um andere Motive, Fragen und Gedanken zu Gehör kommen zu lassen und zu versuchen, sie zu verstehen.

Eine Umfrage von Infratest dimap am 11. November belegt, dass beispielsweise das Einkommen eine Rolle spielt: 42 Prozent der Menschen mit einem geringen Einkommen stimmten den neuerlichen Schließungen von Geschäften und Gastronomie zu – wo mit großer Wahrscheinlichkeit viele von ihnen ihr kleines Einkommen verdienen –, ansonsten waren es im Durchschnitt 54 Prozent aller Befragten. Aber auch eine Reihe gut gebildeter und einkommensstarker Personen sind unter den Kritiker*innen. Ihnen allen unlautere Motive oder geistige Verwirrung zu unterstellen, ist demütigend und sorgt für Polarisierung und gerade nicht für den in einer Pandemie so wichtigen Zusammenhalt über unterschiedliche Gruppen hinweg.

Wie im Großen so im Kleinen – oder umgekehrt?

Vielfach wurde die Zustimmung zu den Einschränkungen mit Solidarität und Orientierung am Gemeinwohl begründet. Lässt sich im Umkehrschluss sagen, dass den Kritiker*innen das Gemeinwohl einerlei ist? Vermutlich wäre das zu kurz gesprungen. Möglicherweise sehen manche Menschen einfach nicht, dass das sogenannte Gemeinwohl auch sie selber schützt. Dann sind fehlende Einsicht und mangelndes Vertrauen nicht verwunderlich, haben aber dennoch weitreichende Konsequenzen.

Zudem gehen Menschen mit ihren Ängsten sehr unterschiedlich um – und in den seltensten Fällen rational. Erst recht, wenn verschiedene Ängste einander gegenüberstehen: Angst vor Krankheit und Tod, Angst vor dem Verlust der wirtschaftlichen Existenz und Angst vor der Einschränkung von Freiheitsrechten. Und auch ohne Pandemie führen komplexe Strukturen und Gefühle von Ohnmacht angesichts vielschichtiger Globalisierungsfolgen, etwa der kaum noch überschaubaren wirtschaftlichen Verflechtungen, zu einem verbreiteten, mehr oder weniger unbestimmten Misstrauen.

Möglicherweise ist das Vertrauen in mehrfacher Hinsicht gestört. Wer sich selbst nicht als wirksam erfährt, traut sich nichts zu, hat kein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und alsbald auch nicht in die öffentlichen Institutionen. Davon können all jene ein Lied singen, die sich mühevoll von einem Job zum anderen hangeln oder aufgrund ihrer sozialen Herkunft noch immer keine gerechten Bildungschancen haben. Ein Viertel der Menschen mit Einwanderungsgeschichte ist von Armut bedroht, unter der deutschen Gesamtbevölkerung sind es 12 Prozent. Doch es geht bei weitem nicht nur um Armut und Bildung. Es geht offenbar auch um das Potenzial und die Chancen, das eigene Leben gestalten zu können, nicht von Abstiegsängsten beherrscht zu werden und das eigene Umfeld in der Öffentlichkeit repräsentiert zu wissen. In dieser Hinsicht scheint das gut gebildete, urbane Milieu im Vorteil, es sieht sich in den öffentlichen Medien mit seinen Meinungen nicht nur repräsentiert, sondern gestaltet sie wesentlich mit.

Vertrauen durch Konflikt

Ohne die nötige politische Bildung und Erfahrung bleibt Demokratie ein abstraktes Konzept. Um eine eigene politische Einstellung vertreten und auf effektive Weise politisch partizipieren zu können, braucht man ein grundlegendes Verständnis, wie Demokratie funktioniert. Wie Studien belegen, ist nicht zuletzt politisches Wissen eng mit Herkunft verknüpft: Stärker noch als die Einwanderungsgeschichte der Familie schlägt hier im wahrsten Sinne des Wortes das kulturelle Kapital – oft schlicht die Anzahl der Bücher im Elternhaus – zu Buche. Dennoch lässt sich auch mit Bildung allein nicht alles erklären.

Wie Vertrauen ist auch Kommunikation keine Einbahnstraße. Erklären allein reicht bei weitem nicht aus, es geht um Verständigung und Austausch. Dabei gilt es, die Sprache bzw. die Signale des Gegenübers zu entschlüsseln. Missverständnisse sind vorprogrammiert und ein Gespräch unter seinesgleichen damit erst einmal konfliktärmer. Auf lange Sicht jedoch wachsen die Konflikte, wenn sie über Ab- und Ausgrenzung oder gar Demütigung ausgetragen werden. In einer komplexen Welt sind die Meinungen verschieden, manchmal konträr und ihre jeweilige Begründung vielschichtig. Da will Kommunikation, also auch Streiten, gelernt sein. Denn neben Solidarität gibt es noch eine andere Kraft, die Gemeinsinn stiften kann. Der Soziologe Vincent August schrieb in einem Aufsatz jüngst über „Integration durch Konflikt“ und legte eindrucksvoll dar, dass gerade im Ringen um die Gestaltung der Gesellschaft gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden kann. Belastbare Beziehungen entstehen oftmals überhaupt nur dadurch, dass es gelingt, Konflikte miteinander auszutragen.

An Themen und zunächst unverständlichen Widersprüchen mangelt es nicht – so viel hat unsere Studie gezeigt. Ganz sicher, das machte sie ebenso deutlich, können wir dabei gemeinsam auf das deutsche Grundgesetz vertrauen. Wie gut! Denn: Demokratie ist in mehrfacher Hinsicht eine Frage der Verfassung!

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