Einfach mal zuhören

Mit „Du hast die Wahl!“ eröffnete WIR MACHEN DAS die bundesweite Veranstaltungsreihe „Demokratie? Eine Frage der Verfassung!“. Kurz vor den Kommunalwahlen in NRW diskutierten Jugendliche und junge Erwachsene dort angeregt über das Thema Wahlen.

Von Laura Maria Niewöhner, 17.09.2020
Das Veranstaltungsteam vor dem Gemeindehaus Heepen: Links nach Rechts: Anja Voigt (Hotspot Heepen), Daniel Marchand (Moderation, Haus Neuland), Felix Tiemann (studentische Hilfskraft von der Uni Bielefeld), Uta Rüchel (Projektleitung, Demokratie? Eine Frage der Verfassung!) , Lama Al Haddad (Veranstaltungsmanagerin vom Verein WIR MACHEN DAS)

Foto-Dokumentation: Bahar Kaygusuz

Es ist ein später Freitagnachmittag, das Wochenende naht und die Sonne scheint. Auf den ersten Blick wenig gute Gründe, um sich mit Politik zu beschäftigen. Doch die 22 Teilnehmer*innen der Veranstaltung „Du hast die Wahl!“, die gerade im Gemeindehaus in Bielefeld Heepen ankommen, scheinen das anders zu sehen. Interessierte Erwachsene treffen hier heute auf Jungen und Mädchen zwischen 16 und 21 Jahren, die allein oder in Begleitung von Mitarbeiter*innen der örtlichen Jugendzentren gekommen sind. Es soll eine Begegnung auf Augenhöhe werden, die der Hotspot Heepen hier ausrichten will. Denn der Fokus liegt auf den individuellen Perspektiven und Fragen der jungen Leute: Was motiviert Euch zur Wahl zu gehen? Ist Wählen ein Grundrecht für alle? Welche Rolle spielen Alter und Staatsbürgerschaft? Diese Themen wurden zunächst in großer Runde und anschließend in Kleingruppen intensiv diskutiert.

Das Grundgesetz ist für die Bundesrepublik Deutschland von großem Wert, darin waren sich alle Teilnehmer*innen einig. Allerdings wurde gleich zu Beginn deutlich, dass nicht jede*r gleichermaßen damit vertraut ist. Zunächst teilten die Anwesenden ihre Erfahrungen eher zögerlich mit der Gruppe. Einige waren erst in Jugendzentren mit dem Grundgesetz in Berührung gekommen, während andere sich bereits in Schule oder Universität ausführlich damit auseinandergesetzt hatten. Doch unabhängig vom unterschiedlichen Wissensstand: Alle sahen es als starke Säule des Zusammenlebens in Deutschland an – als gemeinsamen Werte- und Normenkanon, der von jeder*m Bürger*in respektiert werden sollte.

Ähnlich wichtig schien den Jugendlichen das Thema Wahlen zu sein. Nach anfänglicher Schüchternheit erzählten sie, dass die meisten von ihnen schon einmal gewählt hatten. Bei einem Rundgang durch die Räumlichkeiten löste sich die  Zurückhaltung dann endgültig auf. Auf einmal diskutierten die jungen Wähler*innen, warum sie ihr Wahlrecht genutzt hatten, was sie dazu motiviert hatte, wählen zu gehen und welche Fragen sie zum Thema hatten. Viele erzählten von dem besonderen Erlebnis, Politik aktiv mit gestalten zu können. Aber auch von der ‚moralischen Pflicht‘, die Wahl als essentiellen Bestandteil des eigenen Demokratieverständnisses zu begreifen. Einem Mädchen schien ‚Wählen gehen‘ so selbstverständlich wie Zähneputzen. Und mit Blick auf die Proteste in Belarus wurde allen Teilnehmer*innen klar, dass freie Wahlen keinesfalls eine Selbstverständlichkeit sind.

Vielen ging es gerade deshalb auch um die persönliche Identifizierung mit den Parteien. Sie bräuchten keine VIPs, die via Twitter zur Wahl aufriefen, befanden sie einstimmig. Einzig ein Mädchen hätte sich über eine Wahlaufforderung von den Musikern ‚Die Ärzte‘ gefreut, weil sie deren Meinung teile und sich mit den Songs identifizieren könne. Trotzdem ging es auch ihr vor allem darum, mit gutem Gewissen hinter den politischen Inhalten ihrer Wahl zu stehen.

Als offene Fragen formulierte die Gruppe, warum sich so wenig Jugendliche an Wahlen beteiligen und wieso es kaum junge Politiker*innen gebe. Auch haderten sie mit dem Eindruck, Politiker*innen seien oft unehrlich. Und damit, dass die Umwelt noch immer ein zweitrangiges Thema sei.

Als Möglichkeiten, sich selbst politisch zu engagieren und Einfluss zu nehmen, sahen sie neben Wahlen und Demonstrationen – etwa zu Themen wie Black Lives Matter – auch das Internet. Insbesondere Youtuber*innen inspirierten sie dazu, politische Botschaften in Social Media-Beiträgen kritisch zu hinterfragen und sich selbst dazu zu positionieren. Mehrere Jugendliche fühlten sich von den politischen Positionen des blauhaarigen Youtubers Rezo angesprochen. Seinem Beispiel folgend fingen sie nun selbst an, ihre Überzeugungen zu entwickeln.

Im Anschluss an das Gespräch in großer Runde wurde in Kleingruppen über die Voraussetzungen für das Wahlrecht und politische Mitgestaltung diskutiert – manche Gruppe vergaß darüber die Zeit. Alle Jugendlichen fanden, dass das Wahlalter auch auf Bundesebene auf 16 Jahre herabgestuft werden sollte. Viele junge Menschen wären reif genug, sich politisch zu artikulieren und je früher sie Verantwortung übernähmen, desto mehr Verantwortungsbewusstsein würden sie auf Dauer gegenüber ihren Mitmenschen entwickeln. Einstimmig genervt zeigten sie sich von den stetigen Zweifeln älterer Generationen an der Entscheidungs- und Verantwortungskompetenz von Jugendlichen.

Eine  Anpassung der Strafmündigkeit bei einer Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre sahen sie dagegen eher kritisch. Man müsse Fehler machen und daraus lernen dürfen, sagte ein Junge, was schnell Zustimmung fand. Als Jugendliche*r träfe man manchmal eben Fehlentscheidungen und probiere sich aus, ohne sich über die Konsequenzen bewusst zu sein. Daher sahen die Teilnehmenden ein altersabhängiges Strafrecht als Chance für einen Neustart, „um von der schiefen Bahn wieder wegzukommen.“

Kritisch sahen sie auch den Umstand, dass das derzeitige Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft geknüpft ist. Um Exklusion und mögliche Diskriminierung zu vermeiden,  plädierten sie dafür, das Wahlrecht auf diejenigen auszuweiten, die bereits eine lange Aufenthaltsdauer und gewisse Sprachkompetenzen aufwiesen. Der Onkel eines Teilnehmers wohnt seit mehr als zehn Jahren in Deutschland, hat hier seinen Lebensmittelpunkt, spricht fließend Deutsch und darf nach wie vor nicht wählen. In dem Jungen weckt das großes Unverständnis. Aus Beispielen wie diesen entspann sich schließlich auch ein Gespräch über Rassismus, Sexismus, Menschenrechte – und über die teuren Nahverkehrspreise, welche die Jugendlichen gerne mal in ruhiger Minute mit Angela Merkel besprechen würden.

Jugendlichen und jungen Erwachsenen einfach mal zuzuhören und ihre Perspektiven einzufangen, das hat an diesem ersten Veranstaltungstag ausgesprochen gut funktioniert. Die lockere Atmosphäre hat – trotz Sicherheitsabstand – bestimmt dazu beigetragen, dass sie sich drei Stunden lang mit abstrakten Fragen auseinandergesetzt haben. Vielleicht aber auch die Aussicht, dass die gesammelten Informationen und Diskussionsergebnisse am Ende der Veranstaltungsreihe an die Parteien und zuständigen politischen Einrichtungen übergeben werden. Auf dieser Basis konnten sie politische Vorstellungen nicht nur entwickeln. Sondern auch Gehör damit finden.

 

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