Der Geschmack von Integration: Geflüchtete bringen ihr Leben, ihre Kultur, ihre Küche mit nach Deutschland. Unterwegs mit dem syrischen Filmemacher Maan Mouslli.
Von Elisabeth Wellershaus, 17.10.2018Was wäre, wenn alle so wären wie Maan Mouslli? Eloquent in Deutsch, Englisch und Arabisch. Gebildet und mit kleinem familiären Vermögen ausgestattet. Pfiffig genug, um die Wirren deutscher Bürokratie zu durchdringen. Und dann noch Besitzer eines Schrebergartens. Wenn alle Geflüchteten so wären wie Maan, vermutlich würde Deutschland derzeit nicht über “Abschiebungsmasterpläne” und Grenzkontrollen diskutieren und dabei zuschauen, wie die Koalition sich selbst zerlegt. Vielleicht fiele in Stammtisch-, Spielplatz- und Mediendiskussionen sogar seltener das Wort Islam. Und wir sprächen alle begeistert über die Wirtschaftskraft, die sich durch junge Migranten steigern ließe.
Doch die meisten Menschen, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflohen sind, hatten eine holprigere Ankunft als Maan. Die wenigsten sind so problemlos eingereist wie der ehemalige IT-Unternehmer, der das Regime in Syrien gleich zu Beginn der Revolution mit seinen Aktionen gegen sich aufgebracht hat. Viele stecken nach traumatischer Flucht fest im komplizierten Übergangsmodus aus Arbeitslosigkeit, Integrationsmaßnahmen und einem Leben zwischen den Kulturen. Oftmals nur deshalb untätig, weil sie keinen Platz im Sprachkurs finden. Maan dagegen hatte Glück: Deutschkurs, Wohnung, Kitaplätze für die Kinder und Kontakte waren gute Bedingungen für ein geschmeidiges Ankommen. Heute arbeitet er als Dokumentarfilmer, weil das schon immer sein Traum war. Mit seinem ersten Film, der in einem jordanischen Flüchtlingslager gedreht wurde, wurde er nach Cannes eingeladen; kurz darauf trat er eine monatelange Reise durch Deutschland an, um andere “Neuankömmlinge” zu interviewen. Seine Langzeitdokumentation Newcomers wird von vielen Seiten unterstützt, denn einem wie Maan hört man zu. Was aber ist mit all den anderen?
Kurz nachdem wir uns per E-Mail im Rahmen eines journalistischen Tandemprojekts kennengelernt haben, sitzen Maan und ich im Auto Richtung Märkische Schweiz und er fachsimpelt über gutes und schlechtes Schawarma. Wir sind unterwegs, um Menschen zu porträtieren, die zwischen Provinznachbarschaft und Großstadtghetto nach Wegen des Ankommens suchen. Das Thema Essen gefällt Maan als Aufhänger, er vermisst die syrische Küche, also fahren wir zu einem Koch. Felder und Wälder ziehen an uns vorbei, verlassene Gasthöfe, Hausdächer mit Storchennestern, und ich frage mich, was uns in einem 1.500-Seelen-Dorf mit 20 Prozent AfD-Wählerschaft erwarten wird. Irgendeinen Grund muss es schließlich geben, warum Ahmad Tabakh regelmäßig aus der Stadt Brandenburg zu seinem Cousin nach Buckow fährt und die Leute ausgerechnet hier beim “syrischen Abend” bekocht.
Direkt hinter dem Ortsschild tut sich unerwartete Kleinstadtidylle auf. Bio- und Souvenirläden, eine Kneipp-Kita und zwei schöne Kirchen stehen im kopfsteingepflasterten Zentrum von Buckow – daneben das “Lokal”. Ahmad ist schon einen Tag früher angereist und kocht hier mit der Familie seines Cousins. Er legt Hähnchenschenkel ein, rührt Milchreis um und backt. Sein Urgroßvater hatte das Familienrestaurant in Aleppo vor mehr als 100 Jahren eröffnet. Kurz vor dem Krieg hat Ahmad Tabakh es übernommen, sich auf Gebäck spezialisiert und dann alles zurückgelassen, als es in Aleppo zu gefährlich wurde. Das Ankommen in Brandenburg war mühsam. Ahmad tat sich schwer mit der deutschen Sprache, und er vermisste seine Küche. So sehr, dass er im Asylbewerberheim regelmäßig für alle kochte.
In Buckow ist er mittlerweile für seine bunten Törtchen bekannt. Auch sein syrischer Abend steht jeden Monat im Regionalnewsletter. Die aufgeschlossenere Nachbarschaft kommt ins Lokal, selbst wenn Ahmad syrisches Essen für den Osterbrunch kocht. Die anderen bleiben nicht nur bei Begegnungen mit Geflüchteten weg. “Denen sind auch Bioläden, Freiberufler und deutsche Großstädter suspekt”, sagt Jürgen. Er ist ehemaliger Jugendgruppenleiter von Buckow und einer von denen, die sich dafür eingesetzt haben, dass die Familie von Ahmads Cousin in einer Wohnung der Freikirche unterkommt. Jürgen sagt, Buckows Struktur habe Modellcharakter, genau wie die dezentrale Unterbringung einer syrischen Großfamilie, um die sich Freikirchler, Biolinke und der in die Jahre gekommene Jugendgruppennachwuchs jetzt kümmert. Alle zusammen scheinen sie hier etwas größeren Einfluss zu haben als Skeptiker und AfD-Wähler. An diesem Abend zumindest sitzen Maan und ich neben einer vergnügten Rentnerinnengruppe aus Müncheberg. Daneben Zugezogene und alte Dörfler, nur der Schmied hat heute mal keine Zeit. Maan fotografiert die Kinder von Tabakhs Cousin, die zwischen Küche und Sofa herumspringen, Gäste, die sich bestens amüsieren, und Ahmad, der den Löffel in den Milchreis sinken lässt, als endlich alle satt sind.
Nun also wieder Warten. Warten auf den nächsten Monat, denn zwischen jetzt und dann wird nicht viel passieren. Mit seiner Wohnung und den monatlichen Abenden in Buckow hat Ahmad mehr als viele andere Geflüchtete und doch zu wenig, um zwischen Jobcenter-Gängen, zähem Spracherwerb und der kilometerweiten Distanz zur Familie eine echte Vision für das Leben in Deutschland zu entwickeln. Das „Lokal“ kann ihm keinen festen Job anbieten, zu wenig Kundschaft. Und der Wechsel in eine größere Stadt, abseits des zuständigen Jobcenters, stellt ihn vor bürokratische Hürden. Ahmad träumt davon, in Deutschland ein Restaurant zu eröffnen. Vielleicht fängt er bald ein Praktikum in einer Berliner Bäckerei an. Vermutlich aber geht erstmal alles so weiter wie bisher.
Zurück in Berlin, fahren Maan und ich am nächsten Tag in den Friedrichshain, vielleicht kommt man hier mit syrischem Essen noch besser über die Runden, denken wir uns. Vor dem Aleppo Supper-Club in Friedrichshain drängen sich die Mittagsgäste. Neben der Tür hängt eine Tafel, auf der steht: „Syrische Küche ist mehr als nur Fallafel und Haloumi“. (Foto-Link) Samer Hafez, Betreiber des kleinen Restaurants, sitzt darunter und schüttelt Passanten die Hand. Vor gerade mal fünf Wochen hat sein Laden eröffnet, und manche Stammkunden kommen bereits mehrmals am Tag. An einem Tisch auf dem Bürgersteig sitzt die Kosmetikerin von nebenan, am anderen eine Israelin, deren Großmutter aus Aleppo stammte. Ein Kellner flitzt zwischen der kleinen Küche und den paar Tischen hin und her, und Berlin erscheint für einen Moment als Stadt der Möglichkeiten.
Seit 2014 ist Samer jetzt hier, heute ist er 28. Er hat eine stringente Integrations-Karriere hingelegt: Er hat in Windeseile Deutsch gelernt, war Spüler in einem Restaurant, danach zwei Jahre Mitarbeiter der Firma Käfer im Reichstag, er hat sein eigenes Catering-Unternehmen gegründet – und jetzt ein Restaurant. Schon während des dreimonatigen Wartens auf Aufnahme- und Arbeitsgenehmigung hielt er es nicht aus, die Füße still zu halten. Sein Job als Spüler kostete ihn schließlich den Platz im Wohnheim. Doch Samer war nicht nach Deutschland gekommen, um an der Bürokratie zu scheitern. „Während des Krieges hatte ich meist drei Jobs gleichzeitig“, sagt er. Restaurantmanager, Kleinbusunternehmer, Generatoren-Händler. Daneben hat er türkische Literatur studiert. „Ich wollte nie weg, ich habe meine Zukunft immer in Syrien gesehen“, sagt er. „Aber kämpfen kam für mich nicht in Frage.“ Also informierte er sich im Internet über Fluchtmöglichkeiten – vier Wochen später war er in Deutschland. Und hier sitzt er nun, vor dem Aleppo Supper Club, spricht über die Gewürze für seine Kibbeh und träumt von einem zweiten Restaurant.
Natürlich ist eine Karriere wie die von Samer in Deutschland bislang noch immer die Ausnahme und ohne fremde Hilfe kaum realisierbar. Samer hatte Hilfe: ein deutsches Ehepaar, das ihn bei sich aufnahm und später auch noch seine Mutter, seinen Vater und die Geschwister. “Ohne sie wären wir hier vermutlich noch immer nicht wirklich angekommen“, sagt Samer. Und er fügt hinzu, dass er schon an den Briefen des Jobcenters, der Wohnungssuche und am Gastronomiegewerbe gescheitert wäre, das hier ganz anders funktioniert als in Syrien. Für ihn ist es eine einfache Rechnung: Von 83 Millionen Menschen in Deutschland sind derzeit etwa 700.000 Geflüchtete aus Syrien, auch die Zahl Asylsuchender aus anderen Ländern ist überschaubar. Wenn jeder von ihnen persönlich unterstützt würde, meint Samer, gäbe es deutlich mehr Biografien, wie die seine und die von Maan – selbst mehr solcher zaghaften Annäherungen wie der von Ahmad Tabakh und den Brandenburger Nachbarn. Der Wille zum Ankommen sei ja da, bei den meisten. Doch Behörden und Politik starren weiterhin mit Tunnelblick auf das Mammutunterfangen „Integration“, während Geflüchtete sich entweder selbst oder mit Hilfe engagierter Mitmenschen organisieren.
Lernt unsere Sprache, verhaltet Euch unauffällig, kriegt Eure Religion in den Griff – das sind die oftmals gut gemeinten Ratschläge vieler Deutscher. Doch sind das einseitige Erwartungen, die andere Probleme verdrängen: die Tatsache, dass nicht jeder im Handumdrehen Deutsch lernen kann, dass Arbeit – wenn es denn welche gibt – oft weitab von Jobcenter und Wohnmöglichkeiten liegt, dass Wartezeiten auf Arbeitserlaubnis sich endlos ziehen können, und dass das Wort ‚Integration’ allein keine Zauberformel ist.
Auf dem Rückweg nach Pankow erzählt Maan davon, dass er eigentlich immer ein flexibler Mensch war. Dass er nie Probleme hatte, sich einzufügen. Nicht im studentischen Damaskus, in das er aus der Provinz zog und auch jetzt in Deutschland nicht. „Nur Anpassung um jeden Preis, das liegt mir nicht“, sagt er, als er den Wagen vorbei an Schrebergärten in mein bürgerliches Baugruppen-Viertel lenkt. Er kommt zurecht mit der Tatsache, dass viele Menschen in seinem neuen Umfeld deutlich privilegierter leben als er. Damit, dass es sein altes, syrisches Leben nicht mehr gibt. Aber er lässt sich nicht vorschreiben, welche Teile seiner alten Identität zum neuen Leben in Deutschland passen sollen und welche nicht. In seinen Filmen erzählt er vom mühsamen Prozess des Ankommens und davon, wie wichtig die kleinen Rituale und Fragmente des verlorenen Alltags dabei sein können.
Am nächsten Morgen will Maan wieder zum Aleppo Supper Club, frühstücken, er kriegt den Nachtisch aus Grieß, Mozzarella und Pistazien einfach nicht aus dem Kopf.
Der Artikel ist im Rahmen unseres Tandem-Projekts mit dem Titel „Wir sind Viele. Geschichten aus der Einwanderungsgesellschaft“ entstanden und wurde initiiert von Wir machen das.
Dieser Artikel ist zuerst am 29. Juni 2018 auf ZEIT-ONLINE in der Serie 10 nach 8 erschienen.
Das Journalist*innen-Team für diesen Text bildeten:
– Elisabeth Wellershaus lebt in Berlin. Sie ist Journalistin und arbeitet unter anderem als Redakteurin für das Kunstmagazin “Comtemporary And”. Sie ist Mitglied der Redaktion von “10 nach 8”.
– Maan Mouslli ist ein syrischer Filmemacher und Fotograf, der in Osnabrück lebt. Für den Dokumentarfilm Newcomers führte er Regie.