Foto: Moses Okile Ebokorait
Foto: Moses Okile Ebokorait

Das Ausbildungsförderzentrum Bad Aibling

Gedanken über Defizite im bayerischen Wirtschafts- und Sozialsystem, und ein Projekt, das aus Ungleichungen Gleichungen machen könnte.

Von Katja Huber, 17.10.2018

Da sind: Geflüchtete, die in Deutschland nicht nur geduldet werden wollen, sondern auch ankommen möchten. Die hier nicht nur überleben, sondern lernen, arbeiten und wohnen wollen. Zum Beispiel Michael*, der seit 2015 in Deutschland lebt. Sein Traumberuf ist Altenpfleger. In seiner neuen Heimat zählen betagte Menschen zu seinen besten Lehrern: Sie haben mehr Zeit und sie sprechen langsamer als der geschäftige, junge Teil dieser Gesellschaft. Michael kommt aus Sierra Leone. In seiner Heimat, sagt er, ist es gesellschaftlicher Konsens, älteren Menschen mit Hochachtung und Respekt zu begegnen.

Da ist: der Fachkräftemangel, den mehr als 60 Prozent, weit mehr als die Hälfte aller bayerischen Unternehmen, fürchten. Bei einer Umfrage der IHK für München und Oberbayern im Herbst 2017 benannten bayerische Firmen die fehlenden Arbeitskräfte als eines der größten Geschäftsrisiken, vor dem sie im kommenden Jahr stehen werden. Auch Martina Kaden, Leiterin des Seniorenzentrums Novalis in Bad Aibling kennt das Problem. „Wir sind froh, dass es überhaupt noch jemanden gibt, der sich für dieses Berufsfeld interessiert.“ sagt sie. „Und Michael interessiert sich nicht nur, er möchte das gerne machen, er mag die alten Leute, er lacht, er ist freundlich, er fragt, und das tut den alten Leuten gut, sehr gut.“

Da ist das ’neue Integrationsgesetz‘, von Januar 2017. Um die Integration in den Arbeitsmarkt zu fördern, nahm es das von den bayerischen Handels- und Handwerkskammern vorgeschlagene 3-plus-2-Modell auf. Soll heißen: Unabhängig vom Ausgang ihres Asylverfahrens bekommen Geflüchtete für die meist dreijährige Dauer ihrer Berufsausbildung und zwei angeschlossene Praxisjahre im Betrieb ein Aufenthaltsrecht.

Unter diesen Voraussetzungen scheinen Lösung wie Lösungsweg eigentlich schon vorgegeben. Fachkräftemangel plus Geflüchtete auf Ausbildungs- oder Arbeitssuche plus optimale Rahmenbedingungen ist gleich Behebung des Fachkräftemangels, könnte man unsentimental konstatieren. Und alle Beteiligten sind glücklich, könnte man – etwas sentimentaler – hoffen, wenn, ja wenn diese Rechnung funktionieren würde. Doch da ist
die Realität, die mit Statistiken, Gesetzen und Modellen dann doch weniger zu tun hat, als zu hoffen wäre.

Ohne Initiative geht die Gleichung nicht auf Da sind die bayerischen Behörden, die das 3-plus-2-Modell nicht immer umsetzen (können): Flüchtlinge werden mit viel Engagement integriert, absolvieren erfolgreich Praktika, werden als potenzielle Fachkräfte willkommen geheißen und dann plötzlich doch abgeschoben. Andere Flüchtlinge wiederum werden gezwungen, untätig auf ihre Abschiebung zu warten, auch wenn diese teilweise auf unbestimmte Zeit ausgesetzt ist, über Wochen, über Monate, über Jahre. „Gift für die Integrationsbereitschaft der Betriebe“ nennt das Peter Driesen, bayerischer IHK-Chef. Von „großem Frust bei Flüchtlingen und Betrieben“ spricht Markus Schmidt vom Diakonischen Institut für Bildung und Soziales in Bad Aibling. Und er weiß, wovon er spricht. Genauso wie Franz Lutje von den Malteser Werken. Bevor er anfing, sich für die Integration von Flüchtlingen zu engagieren, hat er viele Jahre bei einem Konzern und als selbständiger Unternehmer internationale Projekte und Teams geleitet.

Beide, Schmidt und Lutje, gehören in dieser Geschichte zu den Leuten, die etwas herausfinden, einer Sache auf den Grund gehen wollen, die ein Scheitern registrieren und dennoch nicht resignieren, sondern im Gegenteil – handeln. Und sich nicht scheuen, dem Scheitern etwas Großes, fast Utopisches entgegenzusetzen. Zum Beispiel die Idee eines Zentrums, das jungen Geflüchteten nicht nur eine Unterkunft bietet, sondern eine speziell auf sie zugeschnittene Schulbildung und Berufsvorbereitung. Doch dazu später mehr. Zunächst einmal haben sich Markus Schmidt, Anna Lobkowicz von den Malteser Werken – auch sie eine Macherin – Franz Lutje und ein Investor aus der Region bei kleinen und großen Betrieben im Landkreis Rosenheim umgehört. Auch hier herrscht Fachkräftemangel, bei Vollbeschäftigung. „Es ist spannend zu erleben, wie unterschiedlich Betriebe ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen“, erzählt Lutje. „Erst neulich habe ich mit einem Unternehmer gesprochen, der sagt ‚Das interessiert uns nicht, das ist nicht unser Job.'“Die Mehrheit, der von Franz Lutje aufgesuchten Betriebe im Landkreis Rosenheim, aber kann sich die Integration von Geflüchteten ins Arbeitsleben durchaus vorstellen, aus ganz unterschiedlichen Beweggründen. „Da gibt es Betriebe, die es nicht nur als ihren gesellschaftlichen Auftrag sehen, Flüchtlinge zu integrieren, sondern ebenfalls eine Verpflichtung gegenüber ihren Großkunden haben, die fragen ‚Was macht ihr? Was gebt Ihr der Gesellschaft?’“ weiß Schmidt zu berichten.
Da gibt es die, die einfach nur offen sind, interessiert, die sich ohne Einschränkungen als Ausbildungsbetrieb verstehen. Da gibt es Kleinbetriebe, die Geflüchtete mit offenen Armen empfangen und irgendwann resigniert feststellen müssen: Sie sind nicht vorbereitet, auf die Probleme, die sich ganz automatisch auftun, wenn Vorstellungen von Leben, Arbeiten, und Geld verdienen auseinandergehen. Und wenn dazu noch eine gewaltige Sprachhürde kommt. „Es gibt kaum ausgereifte Konzepte, wie die Betriebe begleitet werden sollen.“ sagt Markus Schmidt.

Lernen um in Oberbayern richtig anzukommen „Im Deutschunterricht in der Berufsschule haben wir die Grundkenntnisse gelernt – wie wir eine Hose und einen Anorak kaufen oder Lebensmittel. Hier lerne ich die Sprache intensiver und stärker auf das Arbeitsleben bezogen.“ sagt Malik*, ein Teilnehmer des Ausbildungsförderzentrums. Er lebt nun seit bald drei Jahre in Deutschland. Seit vier Monaten wird er von Franz Lutje begleitet. Malik wirkt schüchtern, zumindest zurückhaltend. Doch inzwischen hat er – ab und zu – das Gefühl, angekommen zu sein. Er lächelt, während er andere Zeiten schildert: Als der heute 24jährige im Mai 2015 nach Deutschland kam, konnte er auf vier Jahre Grundschulbildung zurück greifen, Deutsch konnte er nicht, Englisch auch nicht. Afghanistan musste er im Alter von 13 Jahren verlassen, sieben Jahre lebte er im Iran, und hatte dort zeitweise einen Job als Hilfsarbeiter in einer Fabrik, die Autozubehör herstellt. Auf seiner Flucht verbrachte er fast drei Jahre in einem Flüchtlingscamp in Griechenland . Er durfte das Lager nicht verlassen, arbeiten konnte er dort nicht, aber immerhin einen Griechisch-Kurs absolvieren und das griechische und das lateinische Alphabet lernen. Angekommen in der idyllischen oberbayerischen Marktgemeinde Bruckmühl fühlte er sich – als einziger Afghane – vor allem erst mal sehr allein.

Das änderte sich, als er einige seiner neuen Mitbürger kennen lernte: Unabhängig von mangelnden Konzepten und staatlichen Defiziten gibt es engagierte Bürger, auch im Landkreis Rosenheim haben sich etliche zu Helferkreisen zusammengeschlossen. Für Malik gab es einen DAA-Kurs und schließlich die Möglichkeit, die Berufsschule in Bad Aibling zu besuchen. Dort lernte er auch seinen heute besten Freund Faris* kennen. „Natürlich waren wir froh, zur Berufsschule gehen zu können,“ sagt der 19jährige Faris bei einem Gespräch während der Lern- und Hausaufgaben-Phase, die heute direkt an den Deutschunterricht anschließt. „Wir waren dankbar, überhaupt lernen zu können. Aber wir
wussten nicht wofür. Wir hatten da noch kein konkretes Ziel vor Augen, wie wir das jetzt hier haben.“ Im Deutschunterricht hat die siebenköpfige Klasse heute Konjunktionen durchgenommen, und festgestellt, dass es sowohl grammatikalisch korrekt, als auch realistischer ist, „Zu lernen, damit man einen guten Job bekommt, als (erst) zu lernen, wenn man einen guten Job bekommt“.

Sie haben sich in der Berufsschule in Bad Aibling kennen gelernt, sie lernen zusammen für den Unterricht und fürs Leben, sagen die beiden und wenn alles nach ihrem Plan verläuft, werden sie in einigen Jahren Partner in einer eigenen KFZ Werkstatt sein. als Lackierermeister. Malik als Mechatroniker-Meister

Lernen, um eine gute Arbeit zu bekommen, das klingt ebenso simpel wie plausibel. Doch da kommt wieder die Realität ins Spiel: Die Abbrecherquote in der Lehre ist bei Geflüchteten niedriger als bei in Deutschland Geborenen, sagt Markus Schmidt, allerdings schafft es der größte Teil der Geflüchteten nicht, überhaupt ins duale Ausbildungssystem zu kommen. Franz Lutje und Markus Schmidt sind bewandert im Umgang mit Statistiken, im Lesen und Analysieren von Studien. Aber sie sind auch gut darin, Erfahrungen zu sammeln, die eigenen und die von Flüchtlingen und Betrieben, und dann – nicht zu resignieren. Sondern Schlüsse zu ziehen und zu handeln. Erfahrungen zu sammeln, das kann mühsam bis frustrierend sein und lange dauern. Wenn diese Erfahrungen auf
entsprechende Angebote stoßen, kann es aber plötzlich auch ganz schnell gehen, wie sich in Bad Aibling gezeigt hat.

Im Januar 2017 wandte sich ein privates Unternehmen aus der Region an Anna Lobkowicz von den Malteser Werken, mit der Anfrage, eine Idee zum Bereich Arbeitsmarktintegration & Geflüchtete zu entwickeln. Auch die Erfahrungswerte der Malteser Werke sind groß. Seit 27 Jahren sind sie Träger von stationären Flüchtlingsunterkünften und Jugendhilfeeinrichtungen. Innerhalb weniger Wochen entstand die Idee des Ausbildungsförderzentrums. Anna Lobkowicz war sich bewusst, dass Überzeugungskraft gefragt sein würden, um bei Betrieben anzufragen, mit dem Jobcenter zu kooperieren und sich mit dem Kultusministerium auszutauschen. In weniger als einem halben Jahr hatte sich ein Ort zur Idee gefunden: auf einem 70 Hektar großen Areal in Bad Aibling, auf dem sich unter anderem ein Tagungshotel, ein Fußballinternat und ein Bildungscampus mit Mittel- Real- und Fachoberschule befinden. Markus Schmidt vom Diakonischen Institut stieß im September 2017 zum Projekt, und schließlich konnte Franz Lutje als Projekt- und Einrichtungsleiter gewonnen werden.

Seit September 2017 setzen die Malteser Werke und das Diakonische Institut für Bildung und Soziales als Kooperationspartner nun also mit dem Ausbildungsförderzentrum ihr Pilotprojekt um: Zehn Geflüchteten wohnen und lernen zusammen und bereiten sich in Betrieben auf ihr späteres Ausbildungs- und Arbeitsleben vor. Und das mit der Aussicht, nach einem speziellen Vorbereitungsjahr ins duale Ausbildungssystem einzusteigen, also mit Lehre und Berufsschule zu beginnen. Besonderes Augenmerk wurde bei der Auswahl auf eine gute bis sehr gute Bleibeperspektive gelegt: auf die gesetzesgemäße Umsetzung des 3-plus-2-Modells will man sich im oberbayerischen Bad Aibling nicht verlassen müssen.

Ein Pilotprojekt, das seinen Teilnehmern die Erfahrung vieler anderer Geflüchteter erspart Trotz großer Erfahrung in seinem Berufsfeld: Mit dem Vokabular, das ihn zum Lebensmittel- und Kleiderkauf ermächtigt, wäre Faris schon zu Beginn eines klassischen Praktikums oder einer Lehre als Autolackierer auf große Schwierigkeiten gestoßen, und mit ihm auch sein Ausbilder und seine neuen Kollegen. Was nützt es ihm, was nützt es dem Betrieb, wenn der Lehrling in seiner Heimat bereits erfolgreich einen Handwerksberuf praktiziert hat – Faris selbst nennt sich augenzwinkernd einen „Meister seines Handwerks“,
und fügt hinzu. „Alles, was ich dort gearbeitet habe, habe ich mit meinen Händen gearbeitet, nur mit meinen Händen.“ Wie sollte es Faris meistern, wenn er von einem Tag auf den anderen plötzlich an Maschinen arbeiten müsste, von deren Funktion, Bedeutung und vor allem Benennung er keine Ahnung hat? Diese Erfahrung bleibt ihm und seinen neun Mitbewohnern und Mitschülern aus Afghanistan, Eritrea, Sierra Leone, Somalia und Syrien erspart. Fast alle haben bereits die Integrationsklasse der Berufsschule hinter sich. Trotzdem starten sie in den Betrieben, die nach ihren Wünschen und Fähigkeiten von Lutje und seine Kollegen im Landkreis Rosenheim gesucht wurden, erst mal mit einer so genannten „betrieblichen Spracherwerbsmaßnahme“. Das ist kein Schnupperpraktikum: ein ganzes Schuljahr verbringen die Auszubildenden jede zweite Woche Vollzeit im Betrieb, um sich mit Abläufen, Verfahren und Fachbegriffen vertraut zu machen. Dabei machen sie sich Notizen, fotografieren mit ihrem Handy Werkzeuge und Maschinen, stellen Fragen.

„Eine Wasserpumpenzange zum Beispiel“, sagt Walter Heindl, in dessen KFZ-Betrieb Malik seine betriebliche Spracherwerbsmaßnahme absolviert, „ist ein ganz primitives Werkzeug, aber ein langes kompliziertes Wort. Das man natürlich am besten lernt, wenn man weiß, wie es aussieht und was man damit macht. Oder die Reifenbauarten: Die Reifengröße 195/ 65 R15. Natürlich kann ich nicht voraussetzen, dass Malik weiß, dass diese Angabe drei Maßeinheiten vereint, nämlich Millimeter, Prozent und Zoll. Und dass er, selbst wenn er es weiß, auch versteht was das bedeutet. Man muss sich also jeden Tag auch die Zeit nehmen, die Dinge zu erklären. Und diese Zeit nehmen wir uns gerne, weil wir merken, wie super das funktioniert!“ So selbstverständlich ist das für Herrn Heindl nicht. Vor Malik haben bereits drei Geflüchtete seinen Betrieb kennengelernt, auch das im Rahmen einer sogenannten Eingliederungsmaßnahme. Schon damals dachte Heindl, wenn es gut läuft, biete ich ihnen vielleicht eine Lehrstelle als KZF-Mechaniker an. „Aber es lief nicht gut. Es lief eher katastrophal.“ Zwei Teilnehmer hatten fast keine Sprachkenntnisse, der dritte konnte schon ziemlich gut Deutsch, er lernte auch im Betrieb, aber er hatte keine Aussicht auf eine Arbeitserlaubnis, sein Status war noch nicht geklärt. „Als Herr Lutje dann vor ein paar Monaten mit Malik angeklopft hat, war ich sehr skeptisch. Drei Versuche, dreimal gescheitert: eigentlich dachte ich, das genügt.“ Doch dann ließ sich der Ausbilder ziemlich schnell davon überzeugen, dass es unterschiedliche Arten der Vorbereitung auf eine Lehre gibt. Und nach den ersten drei Monaten, in denen Malik jede zweite Woche im Betrieb ist, lautet Heindls erste Bilanz. „Es läuft super, Malik ist sehr interessiert und man merkt, dass alles, was er hier lernt, fotografiert, erfragt, durch die
Präsentation in der Unterrichtswoche vertieft wird. Auch Herr Lutje schaut regelmäßig vorbei, erkundigt sich, wie es läuft und bietet Hilfe an!“ Und diese Hilfe leistet er auch. Denn die intensive Begleitung und Betreuung der Teilnehmer und ihrer Arbeitgeber bis zum Abschluss der Lehre ist das, was das Projekt und hoffentlich auch seinen Erfolg ausmachen.

Ältere Leute haben nicht nur viel Zeit, sie sprechen auch langsamer und verständlicher. Michael nimmt sich, auch schon während der Spracherwerbsmaßnahme im Bad Aiblinger Seniorenzentrum Novalis, viel Zeit für die Alten, zum Beispiel beim Plätzchen backen.

Michael darf in der Seniorenresidenz, wenn er will, bereits Kaffee und Kuchen servieren, mit den Heimbewohnern malen, Spiele spielen, er ist aber auch angehalten, sich Notizen zu machen. „Demenz: Rückentwicklung von Gehirn, Menschen werden wieder wie Kinder“ steht da beispielsweise auf seinem Notizblock. „Die Besucher sind total begeistert, was daran liegt, dass Michael von seiner Arbeit begeistert ist. Auch wenn das, war er macht, unter betrieblicher Spracherwerbsmaßnahme läuft, bringt er sich schon voll ein, ob er nun
mit den Bewohner malt, Musik hört oder zusammen fern sieht.“ sagt Heimleiterin Martina Kaden bei einem von Lutjes Besuchen, bei denen er sich nach dem Wohlergehen der Geflüchteten und der Betriebe erkundigt. „Der Unterschied zu normalen Praktikanten“, fügt Franz Lutje hinzu, „macht sich eindeutig bemerkbar. Die Geflüchteten im Spracherwerb empfinden ihre Arbeit nicht als Pflicht. Sie haben einen starken Willen zu lernen, sie sind neugierig, bringen meist mehr Interesse mit als die Anderen und sind absolut bereit, sich anzustrengen“. Die Frage, wieviel Freizeit den Teilnehmern des Pilotprojekts da eigentlich noch bleibt, bei einem Schul- und Lern- oder Betriebstag von 8 bis 16 Uhr, zwischen Moscheebesuch am Freitagnachmittag und Vorbereitung auf den Praktikumsbericht wird einhellig beantwortet. Es bleibt wenig Freizeit. „Selbst wenn die Zehn in den Unterrichtswochen nach der Lernphase um 16 Uhr in ihre Wohnungen gehen, dann müssen sie aufräumen, sich ums Abendessen kümmern, einkaufen, überlegen wer putzt.“ Alles Vorgänge, die, laut Schmidt, auch zur Bildung beitragen. „Eigentlich ist es ganz logisch. Wie soll ein Geflüchteter erfolgreich Bildung genießen, wenn er nicht weiß, wo er wohnen kann, wie Lernen überhaupt funktioniert, wie die Arbeitswelt und wie ein Zusammenleben aussieht?“ Wenn es Fragen gibt, etwa bezüglich eines Briefs vom Jobcenter oder einer weiteren behördlichen Frist, die eingehalten werden muss, wenden sich die jungen Männer an Franz Lutje, der ihnen auch als Hausleiter zu Verfügung steht. Sein Büro liegt auf der Etage der WG, es ist tagsüber besetzt, es bietet immer eine offene Tür und mindestens auch ein offenes Ohr.

„Das, was bei Kindern und Jugendlichen im Idealfall das Elternhaus ausmacht, übernehmen jetzt wir.“ meint Markus Schmidt, denn ein Teil der jungen Erwachsenen ist allein nach Deutschland gekommen, einige auch mit Eltern und Geschwistern, die zwar Rückhalt bieten, aber selbst mit dem Ankommen in der Fremde zu kämpfen haben. Es geht darum, Lebenshilfe zu leisten, Orientierung und Geborgenheit zu geben, aber auch darum, Werte zu vermitteln, die Allgemeingültigkeit haben. All das bekommen die jungen Erwachsenen aus Afghanistan, Eritrea, Sierra Leone, Somalia und Syrien, viele von ihnen Muslime, nun im oberbayerischen Bad Aibling in einem Ausbildungsförderzentrum mit katholischen und evangelischen Trägern. Beim wöchentlich stattfindenden Reflexionsabend werden Weisheitsbücher aus aller Welt, aber auch mal der Koran zurate gezogen. Wichtig ist den Verantwortlichen, das Befinden und die Probleme der Teilnehmer in der Gruppe zu besprechen und gemeinsam Lösungen zu finden. Zum Beispiel die Frage, ob es sinnvoller sein kann, drei bis fünf Jahre eine Ausbildung ohne
viel Verdienst zu machen, anstatt Taxi zu fahren oder einen Hilfsarbeiterjob zu machen, um gleich mehr zu verdienen. Schließlich sind die Familienangehörigen junger Geflüchteter oft nicht nur die, die ihnen hier fehlen, sondern gleichzeitig auch die, die zuhause versorgt werden müssen. Aus Perspektive des Sohns, der Tochter oder des Enkels ist ein Hilfsarbeitergehalt verständlicherweise oft erst mal die plausiblere Lösung. Im Gespräch können diese Bedürfnisse abgewogen und verschiedene Perspektiven entwickelt werden.

Die Gruppe der Bad Aiblinger Auszubildenden

Maliks, Faris‘ und Michaels Ausbilder sind optimistisch. Neun Monate haben die Geflüchteten noch Zeit, ihre allgemeinen und Fachsprachkenntnisse zu vertiefen. Und wenn sie dabei im Betrieb und in der Schule weiterhin so gute Fortschritte machen, steht danach einer Lehre, also dem Einstieg ins duale Bildungssystem, nichts mehr im Wege. Malik und Faris zumindest haben bereits nach vier Monaten ihrer vermutlich vier bis fünfjährigen Berufsausbildung keine Probleme damit, an morgen oder noch weiter voraus zu denken und zu planen. Für sie steht es fast schon fest: In einigen Jahren werden sie als Partner in einer eigenen KFZ Werkstatt arbeiten. Und zwar in den Berufen, in denen
sie dann erfolgreich eine Lehre absolviert und am besten auch noch einen Meister gemacht haben werden. Faris als Lackierer. Malik als Mechatroniker. Inwieweit das realistisch ist, wie erfolgreich das Pilotprojekt sein wird, ist nach vier Monaten Laufzeit schwer zu sagen. Völlig aussichtslos kann ein Projekt mit Machern, die auch dann handeln, wenn die Dinge nicht so gut laufen, bzw. dann erst recht handeln, wenn die Dinge nicht so gut laufen, allerdings kaum sein. Dementsprechend positiv ist auch die Einstellung von Markus Schmidt. „Natürlich ist Scheitern erlaubt,“ meint er, „wahrscheinlich ist es nicht. Selbst, wenn sich das Projekt als Flop erweist: die Fragestellung bleibt die Gleiche. Wir haben ganz viele Menschen, die wir gesellschaftlich integrieren müssen, durch einen Einstieg ins Berufsleben. Und auch wenn es uns mit diesem Projekt nicht gelingen sollte, werden Sie zwei Träger haben, die weiterhin ein Interesse daran haben zu fragen: Was hat da nicht funktioniert? Und genau daran arbeiten wir. Natürlich wird das Projekt in fünf Jahren nicht so aussehen, wie angedacht. Wir probieren etwas aus.“

* Alle Namen der im Text vorkommenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind Pseudonyme

Einige der Teilnehmer. Fotos: Moses Okile Ebokorait und Franz Lutje

Katja Huber und Moses Okile Ebokorait
Foto: Verena Kathrein

Der Artikel ist im Rahmen eines Tandem-Projekts mit dem Titel „Wir sind Viele. Geschichten aus der Einwanderungsgesellschaft“ entstanden und wurde initiiert von Wir machen das.
Zuerst ist dieser Artikel in der MUH Zeitschrift (28) Frühjahr 2018 erschienen.
Das Autor*innen Team für diesen Text bildeten Katja Huber, die in München lebt und arbeitet sowie Moses Okile Ebokorait, der in Augsburg lebt.

– Moses Okile Ebokorait ist Journalist, Blogger und Digital Unternehmer aus Uganda. Seit Juni 2009 lebt er in Deutschland und ist in verschiedenen Flüchtlingsinitiativen aktiv.

– Katja Huber lebt und arbeitet in München. Sie ist Prosa- und Hörfunk-Autorin, Redakteurin und Radiojournalistin (Bayerischer Rundfunk). Im Herbst 2018 erscheint ihr fünfter Roman “Unterm Nussbaum” (Secession Verlag). Seit April 2016 betreibt sie mit anderen Münchner Autor*innen die Veranstaltungs-Reihe „Meet your neighbours”.

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