Heimat in der Berliner Seele

Viele Geflüchtete aus Syrien versuchen, in Berlin eine neue Heimat zu finden. Dabei entdecken sie Orte, die sie an zu Hause erinnern. Sie kartografieren die Stadt neu.

Von Dima Albitar Kalaji, 05.07.2018
Eyas Adi traf sich mit unserer Autorin Dima Al-Bitar Kalaji. Foto: Juliette Moarbes

Berlin erinnere ihn an Damaskus, sein Heimweh sei deshalb weniger schmerzlich, sagte ein Freund neulich zu mir. Ich komme auch aus Damaskus und lebe auch wie dieser Freund seit einiger Zeit in Berlin. Vielleicht gingen mir diese Sätze deswegen nicht mehr aus dem Kopf.
Ich startete also auf Facebook eine kleine Umfrage, ob auch andere Freunde und Bekannte von mir Damaskus in Berlin wiederfanden und bekam eine prompte Reaktion: Kommentar um Kommentar entstand dort ein neuer Stadtplan von Berlin. Ein Plan, der Damaskus und Berlin überblendete. Natürlich war diese Karte ziemlich unordentlich und wenig übersichtlich: Was sich im Norden von Damaskus befindet, wurde in den Berliner Osten gezogen, was eigentlich im Westen liegt, fand sich irgendwo im Berliner Süden wieder. Welche Stelle in Berlin mit welchem Ort aus Damaskus assoziiert wurde, darüber waren sich alle einig, und alle benutzten für die Berliner Orte mit der größten Selbstverständlichkeit syrische Namen. So sehr ich mich darüber wunderte, so sehr erinnerte ich mich auf einmal daran, dass ich etwas Ähnliches schon einmal erlebt hatte: 2003, als viele Iraker nach dem Krieg nach Syrien kamen und viele syrische Straßen nach Straßen ihres Landes benannten.
Das Thema trieb mich um, und ich begann, Syrerinnen und Syrer an den Orten zu treffen, die sie an Damaskus erinnerten. Zuerst verabredete ich mich mit Hala al-Raschid. Hala ist 35 Jahre alt, Designerin für Informationssysteme, lebt seit vier Jahren in Berlin und arbeitet als Personalleiterin bei einer NGO, die sich für die Unterstützung von Frauen in Syrien engagiert. Wir trafen uns an einem sonnigen Morgen in der Wilmersdorfer Straße, die Hala an Al-Salhijeh erinnert, eine autofreie Straße in Damaskus, die auf beiden Seiten von Geschäften gesäumt ist. Die kleinen Pflastersteine, die weißen Gebäude am Rand, die Menschen, die hier eher plauderten als einkauften, all das vermittelt Hala, wie sie sagt, ein Gefühl der Sicherheit. „Es ist angenehm und nicht so weitläufig. Ich komme gern mit meiner Tochter zum Spazieren hierher und dann erzähle ich ihr hier in der Wilmersdorfer Straße von Syrien.“ Hala sieht sich selbst als zwangsvertrieben. Sie sagt: „Es spielt keine Rolle, welche Sorte Aufenthaltsgenehmigung du in deinen Dokumenten hast, wir sind wegen der Dinge hier, die dort geschehen. Ich konnte nicht wählen zwischen Gehen oder Bleiben. Zu gehen war die einzige Möglichkeit, die ich hatte.“
In der alten arabischen Dichtung beginnen die Gedichte oft mit einigen einleitenden Versen, in denen die Verfasser ihrer Liebsten gedenken. Sie besingen die Orte, an denen diese gelebt haben und die inzwischen zu Ruinen geworden sind. Wenn ich diese Gedichte lese, denke ich: Heute sind nicht nur die Orte die Ruinen, sondern wir auch.

Foto: Juliette Moarbes

Als Hala und ich die Wilmersdorfer Straße entlangliefen, sagte sie: „Ich brauche meine alten Freunde, um mich daran zu erinnern, wer ich bin und wie ich war. Die Leute, die ich jetzt treffe, wissen nicht, wie ich war. Die Hala von jetzt ist die einzige, die sie kennen und getroffen haben, aber sie ist nicht unbedingt die beste Version von mir.“ Hala denkt, dass sie einen alternativen Stadtplan schafft, weil sie etwas braucht, um sich selbst an jene Frau zu erinnern, die sie war. Syrien, das ist für sie eine Mischung aus Menschen, Zeit und Orten – von der sie lediglich die Orte noch einmal entstehen lassen kann.

Foto: Juliette Moarbes

Als zweites traf ich Eyas Adi. Er ist 29 Jahre alt, hatte in Damaskus Medizin studiert, lebt seit zwei Jahren in Berlin und spricht fließend Deutsch. Während er sich überlegt, in welchem Bereich er sein Studium fortsetzen will, veranstaltet er Refugee-Voices-Touren und arbeitet auf seinem Fahrrad für Foodora. Für ihn ist dieses Übereinanderlegen von Damaskus und Berlin „eine Normalisierung mit dem Ziel, Vertrautheit zu erzeugen“. Zumindest beim ersten Erkunden der Stadt, wenn der Kopf ständig versucht, irgendeine Beziehung zum neuen Ort herzustellen. Eyas kommt durch ganz Berlin, während er das Essen ausliefert. „Auf dem Fahrrad entsteht eine neue Beziehung zur Stadt: Ich muss dem Geschehen auf der Straße meine Aufmerksamkeit widmen, das betrifft mich direkt. Diese Unmittelbarkeit ist mir wichtig geworden, man sieht Berlin dann mit anderen Augen.“ Damaskus hat Eyas nur einmal mit dem Fahrrad durchquert: „Fahrradfahren war dort nicht sonderlich beliebt. Damals kam es mir vor, als wäre Damaskus ganz anders und sehr schön gewesen, obwohl es das nicht war. Es war voller Checkpoints, Soldaten und Menschenschlangen, in denen man auf alles Mögliche wartete.“

Foto: Juliette Moarbes

Den Ort, den Eyas mir zeigen wollte, kannte ich nicht. Es war das Böhmische Dorf – die ruhigste und friedlichste Ecke zwischen zwei der lautesten Straßen Berlins; dort, wo Karl-Marx-Straße und Sonnenallee aufeinandertreffen. Als wir durch die Kirchgasse gingen, erzählte mir Eyas, dass er hierherkommt, um seine Gedanken zu sortieren und Ruhe zu finden. Er nennt diesen Ort „meinen Ort in Berlin“. Er erinnert ihn an Saroja – ein sehr kleines Gebiet, das hinter einer Kreuzung zweier ebenso überfüllter Straßen liegt. Eyas glaubt, dass wir den Stadtplan von Berlin mit dem Plan von Damaskus überschreiben, um Orte, die wir nicht mehr aufsuchen können, in Gedanken wachzuhalten und uns daran zu erinnern, warum wir hier sind; hauptsächlich aber, weil Berlin so lebendig und bunt ist und jeden aufnimmt, egal wer man ist und woher man kommt. „Wer die Geschichte Berlins nicht kennt, kann sich nicht vorstellen, dass die Stadt einmal geteilt war. Jedes Viertel hat einen gänzlich eigenen Charakter. Damaskus ist in dieser Hinsicht genauso. Das jetzige Berlin zieht die ganze Welt an. Ich hoffe, Damaskus wird eines Tages genauso sein.“

Foto: Juliette Moarbes

Eine große Anziehungskraft übt Berlin auch auf Seina Knawati aus. Sie ist 33 Jahre alt, Journalistin und lebt in Prag. Fast jeden Monat besteigt sie den Bus nach Berlin. „Nur in Berlin kann ich finden, was ich in Prag vermisse: die Nähe zur syrischen Gemeinschaft“, erklärt sie. Eine neue Stadt mit alten Freunden zu erkunden, gibt ihr die Möglichkeit, sich selbst und die anderen neu kennenzulernen. „Die Syrer hier sind echte Kämpfer, voller Energie. Immer suchen sie nach neuen Möglichkeiten, ihr altes Leben fortzusetzen und zur Stadt zu gehören. Aber zugleich ringen sie mit der anhaltenden Situation in Syrien und den Stereotypen über Geflüchtete, die so schwer zu durchbrechen sind.“
Den Gesprächen und Spaziergängen an den unterschiedlichen Lieblingsplätzen erwuchsen Offenbarungen von Gefühlen, Erinnerungen, Hoffnungen, alten und neuen Bindungen. Alle setzen ihr Leben fort, erinnern sich aber gut an den Ort, von dem sie kamen, der sie zu denen machte, die sie heute sind. Alle sagten, es sei die Berliner Seele, die ihnen ein Stückchen Heimat schenkt. Diese Seele findet sich in Orten oder Speisen, in Musik oder Zusammenkünften, vielleicht aber auch im chaotischen Temperament Berlins.
In Damaskus stieg ich öfter auf den Berg Kasiun, der neben der Stadt liegt und von dem aus ich die Stadt überblicken konnte. Es tat gut, von oben auf die Nervosität der Stadt zu schauen und mich so entziehen zu können. Zum ersten Mal ging ich in meinen frühen Zwanzigern mit einem Freund auf den Berg. Das letzte Mal fast zehn Jahre später mit demselben Freund. Zwischen diesen Jahren gab es unzählige Gelegenheiten, bei denen wir all unsere Gedanken miteinander teilten, jede Geschichte, jedes Geheimnis. Beim letzten Besuch konnten wir die Reflexionen des Sonnenuntergangs nicht von den weit entfernten Feuern unterscheiden, die vom Beschuss der Vororte von Damaskus herrührten. Dicker Rauch verschwand in den Wolken. Wir waren nahezu stumm. Als wir abstiegen, verabschiedeten wir uns zum letzten Mal voneinander. Wir beide haben Syrien in unterschiedliche Richtungen verlassen.
Ich habe meinen Ort in Berlin noch nicht gefunden, auch keinen Freund, mit dem ich ihn teilen könnte. Aber wie Hala sagte: „Das Leben ist eine Straße, die immer nur nach vorn weist.“ Berlin hat unzählige Straßen und Wege. Wer weiß, wohin mich der nächste Schritt trägt.

Foto: Juliette Moarbes
Foto: Maritta Iseler
Foto: Maritta Iseler

Der Artikel ist im Rahmen unseres Tandem-Projekts mit dem Titel „Wir sind Viele. Geschichten aus der Einwanderungsgesellschaft“ entstanden und wurde initiiert von Wir machen das.
Dieser Artikel ist zuerst am 04. Mai 2018 auf ZEIT-ONLINE in der Serie 10 nach 8 erschienen.
Das Journalist*innen-Team für diesen Text bildeten Dima Al-Bitar Kalaji und Juliette Moarbes, die beide in Berlin leben und arbeiten.
– Dima Al-Bitar Kalaji, Journalistin arbeitet bei Wir Machen das und schreibt u.a. für ZON. Für Deutschlandfunk Kultur hat sie die Podcast-Serie “Syrmania” produziert.
– Juliette Moarbes, * arbeitet als Fotografin und ist Bildredakteurin bei Wir machen das und dem Missy Magazine.

 

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