Maritta Iseler Kunsthistorikerin und Bildredakteurin für WIR MACHEN DAS. Foto: Juliette Moarbes (2019)
Maritta Iseler Kunsthistorikerin und Bildredakteurin für WIR MACHEN DAS. Foto: Juliette Moarbes (2019)

Revolution auf Raten

1919 hielt die Sozialdemokratin Marie Juchacz als erste Frau eine Rede in der Weimarer Nationalversammlung. 100 Jahre später scheint es zur Gleichstellung zwischen Männern und Frauen noch immer ein weiter Weg.

Von Maritta Iseler, 05.03.2019

Neulich streikten die Mitarbeiter*innen der U-Bahnen, Trams und Busse in Berlin, aber es war kaum etwas davon zu spüren an diesem herrlich sonnigen Vormittag. Umständlich war nur, dass mein Fahrrad einen Platten hatte. Auf dem Weg zu einer Verabredung musste ich an eine Fotografie denken, ein Bild in der Ausstellung „Berlin in der Revolution 1918/19 – Fotografie, Film, Unterhaltungskultur“. Ich hatte es ein paar Tage zuvor im Museum für Fotografie gesehen: Vier Jungen, etwa im Alter von 5 bis 12 Jahren, fahren nebeneinander auf Rollschuhen durch eine leere Berliner Straße, aufrecht, konzentriert. Stolz halten sie ihre Schultaschen, neben ihnen verlaufen Straßenbahnschienen, im Hintergrund – unscharf – die für Berlin so typischen Hausfassaden.

Die Informationstafel erläutert, dass die Kinder wegen eines Verkehrsstreiks, zu dem die Berliner Arbeiterschaft im März 1919 aufgerufen hatte, mitunter weite Wege zur Schule mit Rollschuhen zurücklegen mussten. Vor zwei Jahren habe ich selbst das Rollschuhfahren für mich wiederentdeckt – eine schöne Erinnerung an meine Kindheit. Mit Sehnsucht dachte ich bei meinem Spaziergang darüber nach, wie fantastisch und umweltfreundlich es wäre, auf autofreien Berliner Straßen mit Rollerskates zu fahren. Und dass es für die Jungen im Jahr 1919 vermutlich weniger fantastisch war: In den Straßen Berlins tobte ein blutiger Häuserkampf.

Ich fragte mich, wie wohl die Mädchen zur Schule gekommen sind, damals, als die Weimarer Republik begann, mit ihren wirtschaftlichen Krisen, Regierungswechseln und dem sozialen Wandel. Wahrscheinlich fuhren auch sie mit Rollschuhen, die seit dem 19. Jahrhundert ein beliebtes bürgerliches Freizeitrequisit waren. Überhaupt müssen die Jahre 1918/19 für Mädchen und Frauen im Rückblick vielversprechend gewesen sein, es wurden wichtige Meilensteine für die Gleichberechtigung gelegt. Und doch blieben festgelegte Rollenmuster tief verankert und sind bis heute nicht verschwunden.

Wichtige Errungenschaften jener Wochen waren nicht nur die Aufhebung der Zensur und die Einrichtung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sondern auch das allgemeine aktive und passive Wahlrecht. Denn dadurch durften Frauen erstmals nicht nur wählen, sondern konnten auch gewählt werden. Zudem wurde im Artikel 109 der Weimarer Verfassung festgelegt: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Beides war von der Frauenbewegung lange gefordert worden, gerade vor dem Hintergrund der zum Teil katastrophalen Arbeits- und Lebensverhältnissen der Arbeiterinnen. Im Februar 1919 hielt die Sozialdemokratin und spätere Gründerin der Arbeiterwohlfahrt, Marie Juchacz, im Alter von vierzig Jahren als erste Frau eine Rede in der Weimarer Nationalversammlung. In ihrer bedeutenden Ansprache sagte sie, die Gesetzesänderungen seien schlicht eine Selbstverständlichkeit – sie hätten den Frauen nur gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden sei.

Eine geschlechterspezifische Ungleichbehandlung blieb dennoch bestehen. Die Verfügungsmacht von Ehemännern über das Vermögen, die Arbeit und den Körper ihrer Frauen blieb beispielsweise unangetastet – erst seit 1977 gibt es keine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung in der Ehe mehr. In der Weimarer Republik vermittelten vor allem die Medien eine stärkere Sichtbarkeit der „modernen“ Frau in der Öffentlichkeit, zumindest in den Städten. Man denkt an die Goldenen Zwanziger Jahre, rauchende Frauen, Mode, Film, mehr Freizeit- und Sportmöglichkeiten. Doch das Leben der Frauen damals war ambivalent, bewegte sich zwischen traditionellen Einschränkungen, Verunsicherung, was die Zukunft anbelangt, und neuen Möglichkeiten im persönlichen und politischen Leben.

Gerade bei der politischen Parteiarbeit bildeten sich in Deutschland seit 1919 langfristig bleibende Muster heraus. Die Frauen kümmerten sich um soziale Ressorts wie Mädchen- und Frauenbildung, Wohlfahrtspflege und Fürsorge – Strukturmerkmale der damaligen politischen Beteiligung, die bis in die 1980er Jahre bestehen blieben. Ein Echo davon klingt in der Aussage von Altbundeskanzler Gerhard Schröder an, der 1998 der ehemaligen Berliner Arbeitssenatorin Christine Bergmann sagte: „Du bekommst das Ministerium ‚Familie und das andere Gedöns’“, auch wenn er später bemerkte, er habe sich nur nicht an den vollen Namen erinnert.

Und wo stehen wir heute? Ja, historische Vergleiche hinken mitunter. Aber angesichts der aktuellen Entwicklungen, Debatten und Statistiken scheint es derzeit, als habe sich kaum etwas geändert: Hundert Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts ist das deutsche Parlament so männlich wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Nur ein Drittel der Abgeordneten sind Frauen. Die #MeToo Debatte hat auf die Herabwürdigung von Frauen in vielen gesellschaftlichen Bereichen aufmerksam gemacht. Redezeit und Gehälter von Frauen in Hollywoodfilmen und Unternehmen liegen weit unter jenen von Männern. Spezifische Frauenberufe werden sowieso schlechter bezahlt, Frauen bekommen weniger Rente, stehen immer noch vor ungelösten Arbeitszeitproblemen und haben geringere Karrierechancen – so die aktuellen Herausforderungen, die von der Gewerkschaft Verdi zum Internationalen Frauentag am 8. März aufgelistet werden. Auch will der Rechtspopulismus mit seinem rückständigen Frauenbild und gestrigen Familienvorstellungen Frauen wieder in enge Schranken weisen. Und gerade deshalb ist es wichtig, dass es so viele Initiativen gibt, die sich für eine offene Gesellschaft, Diversität und eine aktive Beteiligung aller, auch von Frauen anderer Herkunftsländer, einsetzen

Man sollte annehmen, dachte ich, während ich mein Fahrrad nach Hause schob, dass wir keinen internationalen Frauentag mehr bräuchten. Doch mir scheint die Rede von Marie Juchacz noch immer verblüffend aktuell: vor allem ihre Aussage, dass die volle Gleichstellung Frauen zu Unrecht vorenthalten werde.

Diesen Monat schreibt Caroline Assad, Geschäftsführerin von WIR MACHEN DAS, über die ägyptische Revolution. Cosima Grohmann hat die Initiative Adopt a Revolution besucht, über die sie in unserer „Wir kochen das“-Serie berichtet. Und Azadê Peşmen porträtiert für die Rubrik „Superwoman“ die Unternehmerin und Autorin Diana Kinnert, die mit 24 Jahren die jüngste Büroleiterin im Bundestag war.

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