Weiter Schreiben Projektleiterin Christiane Kühl. Foto: Juliette Moarbes (2019)
Weiter Schreiben Projektleiterin Christiane Kühl. Foto: Juliette Moarbes (2019)

Entlang der Zäune

Während Dänemark aus Angst vor der Schweinepest einen Wildschweinzaun an der deutschen Grenze gebaut hat, denkt Weiterschreiben-Projektleiterin Christiane Kühl über eine offenere Welt nach: weil nämlich selbst der Berliner Boden eine Migrationsgeschichte hat.

Von Christiane Kühl, 18.12.2019

Ich bin in Schleswig-Holstein aufgewachsen, dem nördlichsten Zipfel Deutschlands, an der Grenze zu Dänemark. Tatsächlich gehörte Schleswig-Holstein bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch zu Dänemark, und die Verbundenheit mit Skandinavien ist bis heute zu spüren. Schiffe bauen, Windräder aufstellen, Labskaus und salziges Lakritz in Fischform – so ein Zeugs machen eben alle im Norden. „Hygge“ kannten wir auch lange bevor es ein Zeitschriftentrend wurde. Wahrscheinlich, weil häusliche Gemütlichkeit einfach erfunden werden musste, dort wo es permanent nieselt – über einer Landschaft, so weit, ereignislos und flach, dass man morgens schon sieht, wer mittags zu Besuch kommt. As man so secht, bi uns in‘ Norden.

„Bi uns in‘ Norden“ ist ein großer Topos zwischen Nord- und Ostsee, nicht nur in der Bierwerbung. Als ich das letzte mal dort war, Ende November, gab es da allerdings einen Riss im „wir“ – genauer gesagt, einen Zaun. Dänemark hat diesen Zaun gebaut, entlang der Grenze zu Deutschland. Anderthalb Meter hoch, 70 Kilometer lang, quer von Küste zu Küste. Einen Wildschweinzaun, der verhindern soll, dass die Afrikanische Schweinepest nach Dänemark eingeschleppt wird. Die Lokalpresse zählte ihn umgehend zu den „zehn blödesten Zäunen der Welt“, denn in Deutschland ist kein einziger Fall eines schweinepestinfizierten Wildschweins bekannt. Außerdem, da sind sich Jäger*innen nord- und südlich des Zauns einig, wird die Schweinepest gar nicht von Schweinen, sondern von in der Landschaft entsorgten Wurstbrötchen verbreitet.

Die Wildschweine selbst haben sich bislang aus der Diskussion herausgehalten. Die intelligenten Tiere sind gute Buddler, und vermutlich haben sie längst Tunnel unter den Zaun gegraben. Der NDR vermutete gar, es hätten sich schon Schweineschleppergruppen gegründet, die Wildschweinfamilien aus dem Süden nachts über den Rudbøl Sø schwimmen ließen. Darf man solche Witze machen? Ist jedenfalls besser als es ernst zu meinen. So wie die „AfD für alle“-Facebook-Gruppe, wo der Post „Die Dänen machen es vor! Grenze zu Deutschland dicht!“ euphorisch begrüßt wurde. „Die einzig richtige Reaktion auf die irrealen Verhältnisse in Deutschland und Europa“, „Bravo!!“ und „Deutschland unterstützt mit Steuern lieber die Ausländer als Grenzen zu sichern.“ Tatsache ist, dass an dem Zaun bereits zahlreiche Rehe qualvoll verendet sind beim Versuch, ihn zu überspringen.

Das letzte Mal, dass ich ein Wildschwein gesehen habe, war nachts auf der Straße des 17. Juni in Berlin, nicht weit vom Schloss Bellevue. Berlin steht natürlich auch auf der Liste mit den blödesten Zäunen, hier war es dieser Stacheldraht, der 1961 quer durch die Stadt gerollt wurde, als niemand die Absicht hatte eine Mauer zu bauen. Es gibt aber noch eine dritte Sache, die meine alte Heimat Kiel mit der neuen Heimat Berlin verbindet, und das ist der Boden. Denn auch der Boden Berlins kommt aus Skandinavien; er wurde in der letzten Eiszeit mit riesigen Gletschern bis 45 km südlich von Berlin geschoben. Dann kam die Warmzeit, das Eis schmolz, Sand und Geröll blieben. Der Boden der deutschen Hauptstadt hat also Migrationshintergrund.

Erfahren habe ich das kürzlich in einer wunderbaren Ausstellung namens „Bodenproben Berlin. Die letzten 12.000 Jahre“ in der CLB-Galerie am Moritzplatz. Konzipiert als sehr persönliche Annäherung des künstlerischen Leiters Uwe Gössel an das übergreifende Thema „Wo stehe ich?“, beschrieb sie auch eine Bewegung von Süd nach Nord: Dass nämlich die Urbarmachung dieses Bodens vor 6000 Jahren durch Migrant*innen aus dem östlichen Mittelmeerraum und Mesopotamien initiiert wurde. Dort war der Ackerbau erfunden worden und damit die menschliche Sesshaftigkeit nach Jahrtausenden Nomadentums als Jäger*innen und Sammler*innen. Man nennt es die Neolithische Revolution. Die Fähigkeit der Bauern zu Viehhaltung und  Landwirtschaft ermöglichte die Ausbreitung nach Nordeuropa. Die ersten Menschen, die in Berlin sesshaft wurden, kamen aus der Levante. Zuvor hatten hier zeitweilig Rentierjäger gelebt. Die Rentiere aber waren mit der einsetzenden Warmzeit weiter in den kälteren Norden gewandert und die Rentierjäger naturgemäß hinterher. Das war sehr lange, bevor Dänemark die Strecke mit einem Zaun versperrte.

Was ist sonst noch passiert diesen Monat? Greta Thunberg wird vom Time Magazine zur Person des Jahres gekürt. Die Klimakonferenz in Madrid fällt hinter die Ergebnisse von Paris zurück. Trump sagt, Greta solle chillen. Das Kieler Meeresforschungsinstitut informiert, dass der Sauerstoffgehalt der Ozeane viel rasanter abnimmt als gedacht. Das europäische Icarus-Projekt beginnt, weltweit wilde Tiere mit dem Internet der Dinge zu verbinden, um ihre Migrationsrouten zu studieren und sie als Frühwarnsystem für Naturkatastrophen und Epidemien zu nutzen. Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie, treibende Kraft hinter dem Projekt, erhofft sich „ein völlig neues Verständnis vom Leben auf diesem Planeten“. Ich auch.

Der Dezember ist traditionell der Monat, in dem man das Jahr Revue passieren lässt, versucht, lose Enden zusammenzuführen, und dann doch zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Das gelingt nicht immer. Dieser Beitrag für Kosmos beispielsweise, der nichts als lose Enden führt, im Vertrauen darauf, dass im Kosmos sowieso alles mit allem zusammenhängt, wird der letzte sein. Weil das Magazin von WIR MACHEN DAS nicht weiter gemacht werden kann.

Zuversicht bleibt trotzdem: In Italien hat sich eine neue Protestbewegung gegen die Anti-Einwanderungspolitik der Regierung und ihre „Das Boot ist voll“-Rhetorik gebildet. Weil sie so viele sind, dass sie selbst auf großen Plätzen gedrängt stehen, ist ihr Symbol die Sardine. Das freut die Kieler Sprotte dann doch.

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