Foto: Juliette Moarbes
Foto: Juliette Moarbes

Weil wir keine Inseln sind

Unterwegs ändert sich oft die Wahrnehmung. WIR MACHEN DAS-Redakteurin Elisabeth Wellershaus fragt sich, ob sie im Sommerurlaub nicht sogar das eine oder andere Unheil aussitzen könnte, das die Welt gerade heimsucht.

Von Elisabeth Wellershaus, 22.08.2019

Erinnert sich noch jemand an diesen Sommer, der alles verändert haben soll? Angela Merkel, wie sie die Ärmel rhetorisch hochkrempelte. Zeitungsmeldungen, aus denen Geflüchtete über uns „hinwegzurollen“ drohten. Migrationsforscher*innen, die die Hände überm Kopf zusammenschlugen, weil alle von Fluchtbewegungen und den Gründen dafür überrascht waren. Nun also die nächste Überraschung: schon wieder Hitzerekorde. Kontinuierliche Superlativmeldungen über die Temperaturen lassen uns den Klimawandel nur noch mit größter Anstrengung ausblenden. Immerhin die Klimaflüchtlinge der Zukunft scheinen noch weit weg. Der Sommerurlaub puffert manches ab.

Vor ein paar Wochen sitze ich in Cornwall, bei 23 Grad, auf einer winzigen Insel. Es gibt Platz für zwei Bewohner*innen und etwas Besuch. Babs und Evelyne Atkins hießen die beiden Schwestern, die Looe Island 1965 gekauft haben. Claire und Jon heißen die Mitarbeiter*innen des Cornwall Wildlife Trust, die jetzt seit 15 Jahren hier leben. Keine Straßen, keine Geschäfte, kein Verkehr. Steile Felsen, einsame Strände, Möwen, Robben – ein Leben mit den Gezeiten. Für einen kurzen, ganz kurzen Moment scheint mir ein solches Umfeld wie das ultimative Lebensziel.

Kompletter Rückzug in die Natur, mit kleinstmöglichem ökologischen Fußabdruck und minimalsten Störgeräuschen aus der aufgescheuchten Welt drum rum. Die Romantik, die in dieser Vorstellung liegt, trägt mich durch laue Sommertage. Es ist nicht die Angst vor einsamen Wintern, die meine Träume durchkreuzt. Nicht der Stellenmangel beim Cornwall Wildlife Trust. Nicht mal die Sorge, dass es mit Klimaneutralität schnell vorbei wäre, wenn lauter Hobbybotaniker*innen in die Natur einfielen. Nein, es ist die Omnipräsenz von Boris Johnson und anderen politischen Brandbeschleunigern. Die Unruhe aus London und vom europäischen Festland schallt selbst bis hierher.

Während Kapitänin Rackete in Italien zähneknirschend wieder freigelassen wird, braut sich in der britischen Hauptstadt das nächste Unheil zusammen. Mit traumwandlerischer Sicherheit steuert das Land auf das absehbare No-Deal-Szenario zu, kappt die britische Insel ihre Verbindung zum Kontinent. Vielleicht also einfach nicht die beste Zeit, um sich selbst auf einsame Inseln zu wünschen. Dabei ist die Vorstellung natürlich schon verlockend. Die Vorstellung, sich dorthin zu verkrümeln, wo man die Gedanken „der anderen“ nicht mehr hört. Dummerweise sind ideologische Inseln derzeit überfüllt. Zu viele Menschen in Europa träumen von einer abgeschotteten Zukunft. Dass die Gegenwart dort auch nicht unkompliziert ist, zeigt sich in gespaltenen Gesellschaften zwischen Budapest und London. Und dennoch: Die Sehnsucht nach Vereinfachung, nach einer Zeit, in der angeblich alles besser war, sitzt tief.

Noch einmal sehe ich mich nach den beiden Robben um, die friedlich im Ärmelkanal schwimmen. Sie drehen ihre Pirouetten, scheuchen Fischbestände auf, die miese Stimmung der Briten perlt an ihnen ab. Am anderen Ufer wartet eine Welt der schrumpfenden Demokratien auf mich. Angst vorm globalen Chaos: auch hier in Cornwall macht sie sich breit. Zum Glück wohne ich auf einem Bauernhof, an dem gefühlte Bedrohungen ebenfalls abperlen. Meine Vermieterin Janet ist nicht der ängstliche Typ. Jedes Mal, wenn ich sie treffe, erzählt sie Geschichten aus einer präglobalisierten, abenteuerlichen Welt. Sie erzählt von L.A., wo sie in den Siebzigerjahren ihren ersten Supermarkt sah. Von der arabischen Halbinsel, die sie stets mit Cocktail in der Hand bereiste. Von unbekümmerteren, ahnungsloseren Tagen des Reisens, die sie als Stewardess erlebt hat – als das Fremde noch so fremd schien, dass es kaum bedrohlich wirkte.

Ihre Nachbar*innen haben fast alle für den Brexit gestimmt. Hinter hohen Hecken verschanzen sie sich vor einer Welt, der Janet nach vierzig Jahren auf dem Land noch immer nachtrauert. Auch wenn es eine Welt ist, die es gar nicht mehr gibt. Denn eigentlich will auch Janet  nicht mehr zu jenen weißen Westler*innen gehören, die reisend die Welt „erobern“. Lieber erzählt sie Tourist*innen, die es hören wollen, wie sehr sie die Heilsversprechen der europäischen Populist*innen irritieren. Oder stirnrunzelnden Nachbar*innen, wie wenig ihr die Angst vor vermeintlich „fremden Welten“ einleuchtet.

Ich denke an Janet, als ich mit dem Rad durch den Wedding fahre. Vorbei an Kebap-Häusern, Western-Union-Geschäftsstellen, Automaten-Casinos – keine Robben mehr. In einem Café mit marokkanischen Teppichen und veganer Fusion-Küche sitzen Menschen, die arabisch, französisch, englisch und deutsch sprechen. Translokale Durchgangs-Städter, die kommen, gehen und sich ganz selbstverständlich durch die Kulturen der Stadt bewegen. Ich berausche mich an ihrer Vielfalt – ihrem mobilen Leben, ihren mobilen Gedanken. Kurz muckt das Klimagewissen auf: Immer in Bewegung ist auch nicht mehr im Trend. Aber im Stillstand lassen sich die Grenzen zwischen den Welten, in denen Diaspora-Gemeinschaften hier leben, eben auch nicht überwinden.

Ende August wird es endlich wieder kühler. Die Schlagzeilen verlieren an Verzweiflung, die Ferienleere füllt sich mit spätsommerlicher Geschäftigkeit. Was wohl im nächsten Sommer kommt? Werden Hitzerekorde die Gesellschaft wieder aus dem Klimaschlaf hochschrecken? Wird das eigene Reisen manche daran erinnern, dass andere sich viel dringender durch die Welt bewegen müssen? Vielleicht schaffen wir es ja auch in kälteren Tagen: die Gewissheit bewahren, dass wir ohnehin nur gemeinsam genug Fantasie aufbringen, um an den großen Themen zu schrauben – zumindest an der eigenen Inselmentalität.

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