© Laura Breiling
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Rückblick: Eine demokratische Zumutung

Auf der Basis einer Umfrage und der darauf basierenden Studie im Rahmen des WIMD-Projekts Demokratie? Eine Frage der Verfassung! diskutierten ein Journalist, ein Bürgermeister, eine Politikwissenschaftlerin und ein Soziologe über Politik, Vertrauen und Grundrechte in der Pandemie.

Von Teresa Koloma Beck, 19.03.2021

Vier Gäste diskutierten an diesem Abend mit den Moderatorinnen Christina Morina und Uta Rüchel. Stefan Hans Kläsener ist Chefredakteur des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags, zu dem 22 lokale und regionale Tageszeitungen in Norddeutschland gehören. Silvio Witt, seit 2015 parteiloser Oberbürgermeister von Neubrandenburg, war früher selbst Journalist und Kommunikationsberater. Ulrike Guérot ist Politikwissenschaftlerin, Gründerin des European Democracy Lab und Professorin an der Donau-Universität Krems. Und Armin Nassehi ist Soziologe, Mitglied des Bayerischen Ethikrats, des Expertenrats »Corona« der nordrhein-westfälischen Landesregierung sowie Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

In Demokratien werden gesellschaftliche und politische Problemlagen und Konflikte in Prozessen öffentlicher Kommunikation ausgehandelt und bearbeitet. Solche Prozesse brauchen Zeit. Und sie setzen voraus, dass Menschen zusammenkommen. Die Pandemie stellt die demokratische Praxis deshalb vor große Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund hatte das Projekt Demokratie? Eine Frage der Verfassung!  am 25. Februar 2021 zu einem digitalen Gespräch geladen.

Für mich selbst gehört dieses Gespräch zu den anregendsten und aufschlussreichsten der letzten Monate, was sowohl auf die Zusammenstellung als auch auf das Engagement der Gesprächsteilnehmer*innen zurückzuführen ist. An diesem Abend gelang es, die sich ausbreitende Coronadebatten-Müdigkeit zu durchbrechen, wovon auch die Social-Media-Reaktionen während der Veranstaltung zeugten.

Im ersten Teil veranschaulichten die dichten Erzählungen von Kläsener und Witt, dass sowohl Demokratie als auch Pandemiebekämpfung letztlich in konkreten, lokalen Kontexten stattfindet. Ihre Schilderungen machten die Spannungen zwischen beiden Ansprüchen  greifbar. Kläsener erzählte beispielsweise von der Schließung der deutsch-dänischen Grenze zu Beginn des ersten Lockdowns. Diese sei für die Region nahezu traumatisch gewesen. Denn sie beschränkte nicht nur den Alltag; die Erfahrung, dass ein so selbstverständlicher Teil der Lebensrealität von einem Tag auf den anderen aufgehoben werden konnte, löste einen Schock eigener Art aus. Witt berichtete von den Herausforderungen der Pandemie für die Kommunalpolitik, die in hohem Maße auf dem persönlichen Kontakt mit Akteur*innen vor Ort beruht. Beide schilderten anschaulich, wie die Pandemie in ihren jeweiligen beruflichen Feldern Reflexions-, Lern- und Anpassungsprozesse ausgelöst hat. Dabei zwang die Situation nicht nur dazu, Lösungen für praktische Probleme zu finden; auch mussten Fragen nach der Verantwortung und gesellschaftlichen Bedeutung des eigenen Tuns noch einmal neu aufgerollt werden.

Im zweiten Teil des Gesprächs wurde der Videokonferenzbildschirm zur Arena, als Ulrike Guérot und Armin Nassehi in die sozialwissenschaftliche Krisenanalyse eintauchten. Guérot hob die Unveräußerlichkeit von Grundrechten hervor und problematisierte deren anhaltende Beschränkung. Das Leben im Lockdown verändere die Gesellschaft schleichend und nachhaltig, mahnte sie, und betonte immer wieder, dass jede Hoffnung auf ein ›Zurück‹ in den Zustand vor der Pandemie Illusion sei. Nassehi hielt dagegen, Gefahrenabwehr sei ein staatlicher Auftrag, weil Menschen ohne Sicherheit nicht leben könnten. Dass dabei Kollateralschäden entstünden sei bedauerlich, aber unvermeidbar. Weil der Abend klug geplant war, gab es Raum für mehr als den üblichen Schlagabtausch grundsätzlicher Statements. Es stand Zeit zur Verfügung, um aufeinander einzugehen, und so entspann sich eine echte Diskussion.

Umso bemerkenswerter ist es, dass dieses Gespräch letztlich genau jene Konfliktdynamik reproduzierte, die seit Monaten auch öffentliche Debatten prägt. Auf der einen Seite stand das Plädoyer für Freiheit und Würde, das sich mit einer sehr grundsätzlichen Kritik an den staatlichen Pandemiebekämpfungsmaßnahmen verband. Auf der anderen ein ebenso grundsätzlicher Abwehrreflex, der diese Maßnahmen als Schritte zur Gefahrenabwehr verteidigte. Es wurde mit großem persönlichem Einsatz diskutiert. Doch diente die Kontroverse der Schärfung der jeweiligen Argumente. Das Gespräch entfaltete Gegnerschaft.

Nun gibt es kein Gesetz demzufolge gemeinsames Sprechen unbedingt zu Annäherung führen muss. In vielen Bereichen wäre das auch überhaupt nicht wünschenswert. Und insbesondere im akademischen Feld hat ein Wettstreit der Argumente, der primär der Klärung oder Verfeinerung der eigenen Position dient, eine lange Tradition. Die Inszenierung von Kontroverse und argumentativer Gegnerschaft gehört zu den Routinen innerwissenschaftlicher Kommunikation. Und daran ist grundsätzlich auch erstmal nichts auszusetzen.

Allerdings führte der Schlagabtausch zwischen Guérot und Nassehi auch vor Augen, was eben nicht passiert, wenn so gesprochen wird. Wenn die Argumente des Gegenübers primär als Gegen-Argumente behandelt werden, kommen sie als Gesprächsanlässe eigener Art nie wirklich zum Tragen. An diesem Abend war dies besonders bedauerlich, weil Guérot und Nassehi beide viel Bedenkenswertes vortrugen. So anregend ihre Auseinandersetzung war, noch lieber hätte ich einem Gespräch gelauscht, in dem es um die gemeinsame Vertiefung von Überlegungen und Argumenten gegangen wäre und nicht nur um deren Entkräftung. Die Aussagen der ›Kontrahenten‹ boten dafür vielfältige Anknüpfungspunkte:

Wenn Guérot beispielsweise beklagt, dass der sich schleichend vollziehende gesellschaftliche Wandel in der Pandemie zu wenig öffentlich reflektiert wird, ließe sich weiterfragen, was genau diese Reflexionen und Debatten behindert? Wo müssten, könnten, sollten sie stattfinden? Welche Akteur*innen oder Institutionen wären hier relevant? Wenn Nassehi insistiert, dass Sicherheit eine Grundbedingung menschlicher Lebensvollzüge darstellt und deshalb eine wichtige staatliche Aufgabe ist, ließe sich dies im Horizont jüngerer sozialwissenschaftlicher Sicherheitsforschung weiter ausleuchten. Diese arbeitet nämlich heraus, dass ›Sicherheit‹, ›Gefahr‹ und ›Risiko‹ nicht einfach objektiv gegeben sind, sondern an soziale und gesellschaftliche Konstruktionsprozesse gebunden. Wie verändert sich der Blick auf die Verantwortung des Staates in einer Gefahrenlage, wenn man bedenkt, dass das Reden und Handeln staatlicher Institutionen in entscheidendem Maße daran beteiligt ist, dass und wie diese Gefahr überhaupt wahrgenommen wird? Viel wäre zu entdecken gewesen, wäre es gelungen, hier und da aus den Routinen von Kontroverse und Gegnerschaft auszubrechen.

Zu Beginn des Abends hatte Stefan Hans Kläsener seinen Dank für die Einladung mit der Erläuterung versehen, sie sei ein willkommener Anlass, die Routinen des Redaktionsalltags zu durchbrechen. Diese Bemerkung erinnert daran, dass wirklich Neues nur entsteht, wenn wir in unseren Gewohnheiten gestört werden, wenn das, was wir üblicherweise tun, nicht mehr selbstverständlich funktioniert. Gerade in festgefahrenen Konstellationen sind Unterbrechungen von Routinen wichtig. Sie zwingen dazu, einen neuen Blick auf die Situation zu werfen, sich zur Welt wie auch zum eigenen Tun neu ins Verhältnis zu setzen. Angesichts dessen war die bedauerlichste Leerstelle des Abends zweifellos die Lücke zwischen erstem und zweitem Teil. Denn diese klugen, erfahrenen und streitbaren Gäste hätten einander einiges Irritationsmaterial anzubieten gehabt.

Was gäbe es aus der journalistischen oder kommunalpolitischen Praxis zu den politikwissenschaftlichen und soziologischen Analysen zu sagen? Was könnten welche Akteur*innen damit anfangen? Und unter welchen Voraussetzungen? Wie verändert sich sozialwissenschaftliches Arbeiten und Sprechen, wenn es sich im Dialog mit Akteur*innen aus anderen Feldern und deren Anliegen entwickelt? Solche Gespräche über die Grenzen von Fachexpertisen hinweg könnten die Routinen der Coronakontroverse erschüttern und zu neuen gemeinsamen Einsichten führen.

Stärkung und Verteidigung demokratischer Prozesse und Strukturen in pandemischen Zeiten sollten sich nicht darin erschöpfen, öffentliche Diskussionsprozesse anzustoßen. Beachtung verdient auch die Frage, wie eigentlich kommuniziert wird und welche Formen und Modalitäten des Miteinander-Sprechens geeignet sind, um in der Bearbeitung von Problemen und Konflikten tatsächlich voranzukommen.

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