In Artikel 3, Abs. 2 des Grundgesetzes steht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Deike Janssen schreibt, dass Frauen* während der Corona-Pandemie dennoch viel zu wenig bei politischen Entscheidungsprozessen beteiligt und repräsentiert sind. Dabei sind gerade sie von den Auswirkungen der Pandemie oft überdurchschnittlich betroffen.
Von Deike Janssen, 09.06.2020Die Einschränkung der Grundrechte zugunsten der Gesundheitsvorsorge ist unumstreitbar und rechtens. Fraglich ist jedoch, warum die Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie nicht auf grundlegende Freiheitsrechte hin gestaltet werden. Denn derzeit scheint es, als wirke der Staat nicht auf die tatsächliche Beseitigung von bestehenden Nachteilen während der Covid-19-Pandemie hin. Die aktuelle Krise hat bestehende Geschlechterungleichheiten nicht nur deutlicher sichtbar gemacht, sondern auch verschärft – ob es dabei um Lohngerechtigkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gleichberechtigte/-verteilte Erziehungs- und sonstige Sorgearbeit, faire Arbeitsbedingungen oder Entlohnung in all den Berufen geht, die noch immer vorwiegend von Frauen* ausgeführt werden. Unterm Strich werden Frauen* derzeit in eigentlich überholte Rollenbilder zurückgedrängt. Doch warum ist das so?
Stimmen und Proteste von Frauen*, die in der aktuellen Krise für die Einbeziehung von Genderperspektiven eintreten, werden schnell durch das Argument abgewiegelt, die Situation sei einzigartig. Erstmal stünden die Gesundheitsversorgung, der Schutz des Lebens und der Wiederaufbau der Wirtschaft im Vordergrund. Es gehe schließlich um Leben. Wie in jedem Krieg, jeder Pandemie und jeder Katastrophe zuvor sind es exakt dieselben Mechanismen, die ein Zurückwerfen in patriarchalische Strukturen erzeugen. Denn Frauen* werden in diesen Zeiten nicht nur systematisch benachteiligt, sondern sind auch evident stärker betroffen von Maßnahmen und deren Auswirkungen. Beispielsweise vom Anstieg häuslicher Gewalt,[1] dem eingeschränkte Schutzangebote gegenüberstehen. Auch durch erhöhte ökonomische Abhängigkeit vom Partner, Verdienstausfälle oder Kündigungen. Vor allem, da Frauen überrepräsentiert sind im Niedriglohnsektor, etwa im Gastgewerbe oder im Tourismus, und dort oftmals in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind.[2]
Die Grundrechte sollen die Freiheiten von Bürgerinnen und Bürgern schützen. Wie also kann so ein wichtiges, im Grundgesetz verankertes, Recht auf Gleichberechtigung während der Covid-Pandemie einfach nicht mitgedacht werden? Vielleicht weil in der Krise – mal wieder – vor allem Männer an entscheidenden Positionen sitzen, vom Gesundheitsminister über die konsultierten Experten aller Fachrichtungen bis hin zu den wichtigsten Meinungsmachern in den Medien. Und weil sie den Paragrafen § 3 vielleicht schlicht und einfach vergessen haben. Vermutlich wollen die zuständigen Fachkräfte und Politiker Frauen* derzeit nicht systematisch benachteiligen, aber es waren schlichtweg zu wenig Frauen* selbst an ihren Entscheidungen beteiligt. So saßen in der Expertengruppe, die die Bundesregierung in ihrer Corona-Politik beriet, 24 Männer und zwei Frauen* mit dem Durchschnittsalter von sechzig Jahren.[3]
Die verstärkten Nachteile, die dadurch für Frauen* entstehen, sind nicht gleich unmittelbar zu erkennen, weil hier eine systemisch-strukturelle Verschärfung bestehender Nachteile geschieht, keine ruckartige Verschiebung. Viele Frauen* scheinen in Zeiten der Krise – wenn auch unter Protest – vorerst mehr oder weniger freiwillig auf ihr Grundrecht zu verzichten. Sie scheinen es hinzunehmen, weil ihr gesamtes Handeln systemerhaltend ist und ihr gesellschaftlicher Beitrag traditionell als Selbstverständlichkeit gilt.
Dabei sind Frauen* diejenigen, die während der Pandemie dringender gefragt sind denn je. In den sogenannten systemrelevanten Berufen – im Krankenhaus und im Lebensmitteleinzelhandel – machen sie über 70 Prozent der Beschäftigten aus, in Kindergärten und Vorschulen sogar über 90 Prozent.[4] Das sollte nicht nur anerkannt, sondern auch gewürdigt werden, zumal die Mitarbeitenden in diesen Bereichen jetzt noch gebrauchter und betroffener sind als sonst. Die Covid-19-Pandemie betrifft alle Menschen, ein Virus macht keinen Unterschied zwischen Geschlecht, Gender, Hautfarbe, Klasse oder Religion. Aber die Maßnahmen und Restriktionen und die damit verbundenen Krisen und Infektionsraten treffen nicht alle gleich, sondern besonders die Gruppen, die unter normalen Bedingungen schon benachteiligt sind. Deswegen fordert das Grundgesetz eben auch nicht Gleichheit für alle, sondern Gleichberechtigung.
Ein Beispiel: Wenn durch eine Pandemie öffentliche Dienstleister wie Schulen und Kitas schließen, sinkt nicht der Bedarf an dieser Arbeit, sondern er wird verlagert – und zwar wie seit jeher auf Frauen*, mitsamt allen negativen Auswirkungen auf deren Berufstätigkeit oder Freizeit. Das geschieht nicht, weil jede einzelne Frau* sich individuell dazu entscheiden würde, diese Aufgaben heroisch zu übernehmen, sondern weil diese Art der Arbeitsteilung für unser System immanent ist. Genau hier wird die fehlende Genderperspektive in der Beschließung mancher Maßnahmen sichtbar: Eine Expertengruppe, die sich nichts anderes vorgestellt hat als ein dichotomes Mann-Frau-Modell, verfehlt die Realität, in der Frau* derzeit fast automatisch in traditionelle Rollenbilder zurückgedrängt wird. Absatz 2 des Artikels 3 des Grundgesetzes basiert auf der Annahme, es gäbe ein repräsentatives Wissen über Perspektiven, Strukturen und Systematik der bestehenden Nachteile. Tatsächlich aber führt das Fehlen von gesellschaftlicher und regulatorischer Macht von Frauen* dazu, dass ihre Bedürfnisse und Perspektiven noch immer kaum gehört werden. Ein Lösungsweg für dieses Phänomen liegt auf der Hand: Um das Fehlen von Perspektiven zu beheben und genderspezifische Themen sichtbar zu machen, müssen Frauen* angemessen in politischen Entscheidungsprozessen repräsentiert und daran beteiligt werden.
Doch es geht um mehr als nur das Aushandeln und Entscheiden von Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Es geht nicht nur um den langsamen Prozess der realen Gleichstellung der Geschlechter und die Zeit nach der Pandemie. Auch nicht ausschließlich um unbezahlte Care-Arbeit und geschlechterbasierte Ungerechtigkeiten. Die ‚bestehenden Nachteile‘, die das deutsche Grundgesetz nennt,[5] sind, vor allem in internationalem Maßstab, weitaus tragischer und extremer. Frauen* sind weltweit überproportional von Sterblichkeit und Erkrankungsraten in Pandemien betroffen.[6] Diese Tatsache wurde bisher bei der Covid-19-Pandemie noch nicht festgestellt, aber die Annahme, die Infektionen beträfen Männer und Frauen* gleichermaßen, ist fatal. Denn dadurch werden die Daten in und nach der Pandemie nicht nach Geschlechtern aufgeschlüsselt, so dass geschlechtergerechte Schutzkonzepte und Ungleichheiten noch weniger Beachtung finden. Dabei erledigen Frauen* nicht nur mehr unbezahlte Care-Arbeit, sondern sind auch traditionell eher dort im Einsatz, wo ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht. Als Putz- und Waschkräfte, in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Supermärkten, der Notbetreuung von Kindergärten und Grundschulen sind sie überproportional vertreten und dadurch dem Risiko derzeit am stärksten ausgesetzt.
+++
[1] United Nations (2020): WHO warns of surge of domestic violence as COVID-19 cases decrease in Europe. Unter: https://unric.org/en/who-warns-of-surge-of-domestic-violence-as-covid-19-cases-decrease-in-europe/ (abgerufen am 28.05.2020)
[2] UN Woman, Corona: Eine Krise der Frauen. Mai 2020. Unter: https://www.unwomen.de/helfen/helfen-sie-frauen-in-der-corona-krise/corona-eine-krise-der-frauen.html (abgerufen am 28.05.2020)
[3] Antonia Baum, „Hannelore radikalisiert sich“, Die Zeit, 24.4.2020. Unter: https://www.zeit.de/kultur/2020-04/kinderbetreuung-berufstaetige-frauen-rollenverteilung-familie-corona-krise-10nach8/komplettansicht (abgerufen am 10.05.2020)
[4] Matthias Janson, „In der Krise halten Frauen die Gesellschaft am Laufen. Statista, 17.3.2020. Unter: https://de.statista.com/infografik/21148/anteil-der-sozialversicherungspflichtig-beschaeftigten-nach-wirtschaftszweigen/ (abgerufen am 10.05.2020)
[5] Art. 3 Abs. 2 GG lautet vollständig: „ Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
[6] Siehe beispielsweise die Ebola-Epidemie in Liberia: 75 Prozent der an der Krankheit Verstorbenen waren Frauen, in Sierra Leone bis zu 60 Prozent. Vgl. Jina Moore, Ebola Is Killing Women In Far Greater Numbers Than Men, BuzzFeedNews 20.8.2014. Unter: https://www.buzzfeednews.com/article/jinamoore/ebola-is-killing-women-in-far-greater-numbers-than-men (abgerufen am 10.05.2020)
Dieser Essay wurde ausgewählt aus 40 weiteren Beiträgen, die uns im Rahmen unseres Wettbewerbs „Erkundungen im Maschinenraum der Demokratie“ zugesendet wurden, um sich mit den Themen Demokratie und Grundgesetz vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie 2020 auseinanderzusetzen.
Drei weitere ausgewählte Essays können Sie hier nachlesen.
Der Wettbewerb entstand im Rahmen des Projekts Demokratie? Eine Frage der Verfassung! unter der Projektleitung der Soziologin Uta Rüchel in Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld (Professur für Zeitgeschichte) und der Robert-Havemann-Gesellschaft. Das Projekt von WIR MACHEN DAS wird gefördert von der Bundeszentrale für Politische Bildung.