Die Jounalistin Hiba Obaid im Gespräch mit Wala Ezeddin, Berlin, Foto: Inga Alice Lauenroth
Die Jounalistin Hiba Obaid im Gespräch mit Wala Ezeddin, Berlin, Foto: Inga Alice Lauenroth

Drei Frauen – drei Neuanfänge

Die syrische Journalistin Hiba Obaid hat mit drei Frauen in Brandenburg gesprochen, die Krieg, Gewalt und Flucht erlebt und einen Neuanfang in Brandenburg gewagt haben. Über ihr Leben vor der Flucht nach Deutschland und über die Gegenwart. Über drei ganz unterschiedliche Biografien und den gemeinsamen Wunsch nach Freiheit und einem selbstbestimmten Leben.

Fotos: Inga Alice Lauenroth

Von Hiba Obaid, 10.12.2018
Wala in Heroldsbach: Den eigenen Weg gehen entgegen aller Zwänge

„Ich bin Atheistin, Vegetarierin und Feministin, und ich weigere mich, mich sexuell zu klassifizieren. Es ist demütigend, nur zwei Geschlechter auf der Welt zu haben, männlich und weiblich“, sagt Wala Ezz El-Deen (28) aus dem syrischen Homs. Sie hat in Syrien und Kairo englische Übersetzung studiert und kommt aus einer muslimischen Mittelklassefamilie. Wala wollte sich nicht mehr anpassen. Der Alltag in ihrer Familie war so gewaltsam und erdrückend, dass sie irgendwann keinen anderen Ausweg mehr sah, als wegzulaufen. Weil ihre Familie aber wusste, wie unglücklich sie war, und ihre Fluchtpläne ahnte, versteckte sie alle offiziellen Dokumente, so dass sie nicht ausreisen konnte. Wala blieb nichts anderes übrig, als mit ihrer Familie zusammen von Syrien in die Vereinigten Arabischen Emirate zu gehen. Erst während einer gemeinsamen Türkeireise ergriff sie ihre Chance und befreite sich aus dem familiären Käfig: „Als wir zurück in die Emirate fliegen sollten, kam ich nicht mit zum Flughafen. Meine Familie hatte zwei Möglichkeiten, entweder auf mich zu warten und den Flug zu verpassen oder mich gehen zu lassen“, berichtet sie heute. Ihre Familie entschied sich dafür, sie gehen zu lassen, und so blieb Wala allein in der Türkei.

Wala Ezeddin. Foto: Inga Alice Lauenroth
Wala Ezeddin. Foto: Inga Alice Lauenroth

Sie begann, bei einer britischen Hilfsorganisation zu arbeiten, hatte aber sonst wenig gesellschaftlichen Anschluss. In dieser Zeit kam sie mit einer Seite der türkischen Gesellschaft in Berührung, die ihr die vielen Tabus in Syrien in Erinnerung rief: „Warum lachst du so laut? Warum trägst du Schwarz? Du bist noch zu jung dafür, sieh dich an, du siehst aus wie eine Oma in diesen Klamotten! Farben, warum all diese Farben? Du siehst aus wie ein Clown! Na, am Ende wirst du sowieso heiraten und bei den Kindern zu Hause bleiben.“ So hatte Wala sich ihre Freiheit nicht vorgestellt. Sie floh weiter nach Deutschland in der Hoffnung, dort ein selbstbestimmteres Leben führen zu können.

Heute lebt sie in Heroldsbach in einem Zimmer eines großen Hauses, zusammen mit einem deutschen Paar, das sie während ihres Aufenthalts in einem Lager kennengelernt hat. Sie arbeitet viel, um endlich die nötigen Papiere für ein Studium an der Universität zu bekommen. Sie spielt mit ihrer alten Nachbarin Karten und isst Kuchen zum Kaffee. Am Abend bleibt Wala zu Hause, um ihrer neuen Familie zu helfen, das Haus aufzuräumen. Bald beginnt sie ihre Arbeit als Onlineübersetzerin bei Creative Associates International.

Vor den letzten Wahlen hatte Wala Angst. Sie glaubte, dass die Plakate, die sie jeden Tag auf der Straße sah, nichts Gutes versprechen würden, und die täglichen Erfahrungen in Brandenburg verstärkten diese Angst: „Viele Leute auf der Straße fragen mich, warum ich nicht wieder nach Syrien gehe.“ Trotz allem, was sie bisher erreicht hat, fühlt sie sich aufgrund dieser Umstände unter großem Druck. Dennoch engagiert sie sich weiter politisch. Sie ist eine der Gründerinnen von Liberation Nürnberg!, eine aus vegan lebenden Menschen bestehende, autonome Graswurzelinitiative innerhalb der Tierbefreiungsbewegung. Liberation Nürnberg! hat sich der totalen Befreiung aller menschlicher und nicht menschlicher Tiere verschrieben. Und kaum jemand könnte glaubwürdiger für diese Forderungen einstehen als Wala Ezz El-Deen.

Khadija in Potsdam: Die eigene Kraft wiederfinden

Auch die 41-jährige Khadija kommt aus Syrien, und auch sie hat einen ausgeprägten Unabhängigkeitssinn. Nach dem Tod ihres Vaters arbeitete sie im Baugewerbe – nicht unbedingt üblich für eine Frau in einer eher patriarchalischen Gesellschaft.

Khadija Mesto, Potsdam. Inga Alice Lauenroth
Khadija Mesto, Potsdam. Inga Alice Lauenroth

Mit dem Kriegsausbruch in Syrien begann Khadija, sich als Freiwillige im humanitären Bereich zu engagieren. Gemeinsam mit anderen Frauen setzte sie sich für Kinder ein, die das syrische Regime unter dem Vorwand, Kinder von Terroristen zu sein, schikanierte. Diese Arbeit und der Umstand, dass ihre vier Töchter die Bombenangriffe überlebten, gaben ihr die Kraft, weiterzumachen. Doch schließlich musste die Familie fliehen, weil Khadijas Mann vom syrischen Regime gesucht wurde.

„Als ich in Deutschland ankam, fühlte ich mich trotz all der Kraft, die ich vorher gehabt hatte, schwach. Die meisten Leute hier schauten auf mich herab, sie betrachten mich nur als Flüchtling oder als Muslimin wegen meines Kopftuchs.“ Khadija erzählt weiter, dass sie das Wohnheim wegen der vielen Belästigungen, denen sie ausgesetzt war, in den ersten Monaten nicht mehr verließ. Es waren die Blicke und die Beleidigungen. „Einmal stand ich am Hauptbahnhof in Potsdam und wartete auf meine Tochter, die gerade Blumen kaufte. Ein deutscher Mann sprach mich laut an, ich verstand ihn nicht, aber er zeigte auf mein Kopftuch und spuckte mich an. Das war sehr erniedrigend.“

Heute wacht Khadija jeden Tag um 6:30 Uhr in ihrer Wohnung in Potsdam auf, schaltet den Fernseher ein und ruft ihre Töchter so lange, bis sie endlich auch aufwachen und zur Schule gehen. Nachdem sie das Frühstück zubereitet und sich von ihnen verabschiedet hat, schaut sie sich mit einer Tasse Kaffee die Nachrichten an, die in letzter Zeit wieder wichtig geworden sind, wie sie sagt, nicht nur die Nachrichten in Syrien, sondern auch die Weltnachrichten.

Neben dem Deutschkurs besucht Khadija jeden Montag einen Kochkurs in der Potsdamer Da-Vinci-Schule. Khadija erzählt den Kindern dort von der syrischen Küche und hilft ihnen, Gerichte aus ihrer Heimat zuzubereiten. Sie träumt von Sicherheit, einer Sicherheit, die sie auch in Deutschland noch immer vermisst. Erst letzte Woche wurde sie am Potsdamer Hauptbahnhof von einer Fremden wegen ihres Kopftuchs geschlagen.

Lava in Frankfurt/Oder: Freiheiten und Verluste

Für Lava, eine 27-jährige Mutter aus Kobani, ist es vor allem die Einsamkeit, die ihr in der hiesigen Gesellschaft Angst macht. „Der größte Schock in Europa ist für mich der Isolationismus. Die Europäer sind so in ihre Arbeitskontexte eingespannt, dass sie in den Ferien kaum noch Zeit haben, sich von der Arbeit zu erholen. Für neue Freundschaften haben sie einfach keine Zeit.“

Hiba Obaida und Lava Mouslam, Frankfurt Oder. Inga Alice Lauenroth
Hiba Obaida und Lava Mouslam, Frankfurt/Oder. Inga Alice Lauenroth

Aufgewachsen in Aleppo lebte Lava später in Kobani, einer Stadt etwa 30 km von Aleppo entfernt, in der größtenteils Kurd*innen leben. Sie hat in Aleppo studiert und spricht neben ihrer Muttersprache Kurdisch auch Arabisch. Als der sogenannte Islamische Staat (ISIS) dort einmarschierte und die Kämpfe mit der PKK begannen, floh Lava wie ein großer Teil der dortigen Bevölkerung in die Türkei. Hier arbeitete die junge Frau bei einer Radiosendung heißt (Hara FM) und hatte zunächst nicht vor, nach Europa zu gehen. Es war ihr Mann, der nach Deutschland wollte und dem sie schließlich folgte.

Mittlerweile lebt Lava mit Mann und Sohn in Frankfurt/Oder und ist glücklich darüber, dass ihr Kind hier in Deutschland groß wird, wo Bräuche und Traditionen kein Zwang sind. Sie schätzt auch die Freiheiten, die sie hier selbst genießt – sich frei äußern zu können zum Beispiel. Gleichzeitig fehlen ihr aber auch manche Werte – so wie der starke Familiensinn, den sie in Syrien und in der Türkei erlebt hat. „Ich stehe den Ideen der deutschen Gesellschaft nahe“, sagt sie. „Ich erlebe hier keine religiöse Voreingenommenheit. Wenn ich erzähle, dass ich Atheistin bin, beeinflusst das nicht unser Gespräch. Das kenne ich aus Syrien und der Türkei anders.“

Herausforderungen im Alltag

Während Lava sich als Atheistin hier angenommen fühlt, hat Khadija mit Vorurteilen zu kämpfen. Sie fühlt sich auf Oberflächlichkeiten reduziert, so als wäre das Kopftuch alles, was die Menschen von ihr sehen und als würden ihre Stärke und Hilfsbereitschaft keine Rolle mehr spielen. Trotzdem möchte sie als Muslimin das Tuch nicht ablegen, aus Respekt vor ihrer Religion. Sie sagt: „Bei meinen Töchtern werde ich das Kopftuch nicht durchsetzen. Natürlich hat jeder von uns seine persönlichen Überzeugungen, aber ich werde meine nicht wegen der Gesellschaft aufgeben. Die Menschen müssen mich so akzeptieren, wie ich bin, solange ich nicht gegen das Gesetz verstoße oder die Freiheit von jemand anderem beeinträchtige.“

Auch Lava erzählt von Herausforderungen in ihrem neuen Alltag. Während in Syrien und in der Türkei vor allem von Männern erwartet wird, dass sie hart arbeiten und die Familie finanziell unterstützen, sind in Deutschland auch die Frauen gefordert. Hier müssen Frauen alles sein, ohne auf die Unterstützung von irgendjemandem zu warten: „Ich habe in Syrien immer gefühlt, dass es jemanden gibt, der mich beschützt, der den Druck und die Last des Lebens trägt. Das ist hier anders.“ Lava ist müde: „Es ist nicht leicht, eine Mutter zu sein.“ Seit sie Mutter geworden ist, kümmert sie sich um nichts anderes als um ihren Sohn. „Nichts ist mir etwas wert, außer mein Sohn.“ Wenn er schläft, fängt Lava an zu malen und zu zeichnen. Sobald ihr Sohn wieder aufwacht, verbirgt sie das alles und schaltet um in den Alltag als Mutter. Dann verbringt sie ihren Tag mit ihrem Kind, spielt mit ihm, singt und weint mit ihm. Abends liegt Lava dann in seiner Nähe und wünscht sich, dass sie heute eine gute Mutter war. Gerade wartet Lava darauf, dass ihre Kurse an der Universität beginnen und ihr Sohn ein neues Leben im Kindergarten beginnt. Sie hält es für einen wichtigen Schritt für beide.

Was Lava als ungewohnte Verantwortung und Druck beschreibt, ist für Wala eine ungekannte Freiheit und Unabhängigkeit, von der sie schon früher geträumt hat. Auch vor dem Krieg träumte sie wie viele andere Student*innen davon, nach Deutschland zu reisen. Für Wala erschien Deutschland schon damals als ein Land der Chancen und der Freiheit. Hier hat sie nicht nur viele neue Freund*innen gefunden, die ihr ähnlich sind, sie kann auch ohne Furcht über sich und gesellschaftliche Probleme sprechen. Auch Khadija hat Freund*innen und Gleichgesinnte gefunden, der Potsdamer Verein Hand in Hand hat sie dabei unterstützt, gemeinsames Kochen, Fahrradfahren lernen und vor allem der Austausch über alltägliche Probleme waren schöne und wichtige Erfahrungen für sie.

Pläne für die Zukunft

Khadija träumt davon, ihr eigenes Restaurant in Potsdam zu eröffnen: „Ich möchte den Deutschen beweisen, dass wir erfolgreich sein können.“ Lava möchte ein Wirtschaftsstudium beginnen, obwohl sie in Syrien bereits Maschinenbau studiert hat: „Ich blicke optimistisch in die Zukunft.“ Wala fängt bald an, linguistische Informatik zu studieren: „Trotz der physischen, psychischen, verbalen und sexuellen Gewalt, die ich in Syrien erlebt habe, werde ich nicht vergessen, dass diese Erfahrungen mir die Kraft geben, zu sein, wer ich bin.“

Foto: Alexander Janetzko
Foto: Alexander Janetzko

Dieser Artikel ist im Rahmen eines Tandem-Projekts mit dem Titel „Wir sind Viele. Geschichten aus der Einwanderungsgesellschaft“ entstanden.

Er wurde  von Wir machen das initiiert.

Das Tandem für diesen Text bildeten Hiba Obaid und Inga Lauenroth.

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