Through Their Voices ist eine Interviewserie mit zehn syrischen Aktivisten aus der belagerten Stadt Moaddamiyeh, westlich von Damaskus. Die Stimme des Sanitäters gehört Odai Mohammad, der von seinem Alltag im Krankenhaus der Krisenregion berichtet.
Von Ameenah A. Sawwan, 04.07.2016Moaddamiyeh war ein früher Hotspot für die Anti-Assad-Demonstrationen und der darauffolgenden Regierungsunterdrückung. Die Menschen leiden seit vier Jahren unter der Belagerung durch das Assad-Regime und wurden im August 2013 mit chemischen Waffen angegriffenen. Trotz aller Gewalt, die ihnen bis heute widerfährt, haben diese Aktivisten den Glauben an den Frieden auch nach fünf Jahren der Revolution nicht verloren. Es ist höchste Zeit, dass ihre Stimmen Gehör finden. Ihre Worte reflektieren ihre Anstrengungen und Hoffnungen. Die Stimme des Sanitäters ist der dritte Teil der Serie.
Odai Mohammad gehörte 2010, seinem ersten Jahr an der Juristischen Fakultät von Damaskus, zu den besten Studenten seines Jahrgangs.
„Die Wände haben Ohren! Psst!“, sagte Odai zu mir, als ich ihn nach seiner politischen Einstellung vor der Syrischen Revolution fragte.
Als die Syrische Revolution begann, war Odai schon im zweiten Jahr an der Uni und schaffte es nun kaum noch, seine Klausuren zu bestehen. Aus Sicherheitsgründen musste er viele Vorlesungen ausfallen lassen. In seiner Heimatstadt Moaddamiyeh hatten die Demonstrationen Anfang 2011 begonnen und seitdem ist die Stadt von Assads Kontrollpunkten umzingelt. Anfang 2012 wurde Odais Vater verhaftet und verbrachte eine Woche in den Einrichtungen des Geheimdienstes. Er wurde massiv gefoltert und war nach seiner Freilassung, sowohl körperlich als auch psychisch, auf ärztliche Betreuung angewiesen.
„Während dieser Zeit hat mein Vater mich dazu ermutigt, weiter zu studieren. Er war der Meinung, dass es eine Art des Kampfes gegen das Regime sei, gebildet und eines Tages ein guter Anwalt zu sein, der die Unterdrückten verteidigen kann. Ich glaube, mein Vater war ein sehr einfacher Mann!“
Odais Vater wurde erneut verhaftet. Dieses Mal hatte er seinen jüngeren Sohn bei sich. Der Geheimdienst rief Odais Familie von dem Mobiltelefon des Vaters an und sagte „Jemand sollte vorbeikommen und das Kind abholen.“ Die Familie hatte jedoch Angst es könne eine Falle sein, um weitere Verhaftungen vorzunehmen. Nach fast einem Monat wurde Odais Vater schließlich freigelassen. Odai beschloss, nicht mehr zur Uni nach Damaskus zu fahren. Er hatte Sorge ebenfalls verhaftet zu werden. Die Möglichkeit bestand, da er heimlich an Demonstrationen rund um Moaddamiyeh teilnahm.
“Eines Abends, 2012, saßen wir beim Essen zusammen, als unser Haus von einer riesigen Rakete getroffen wurde. Ich erinnere mich noch gut an die schwere Explosion und daran, wie meine Mutter schrie und an die Massen an Staub, die es unmöglich machten einander zu sehen. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Unser Haus jedoch, und damit ein Teil unserer Familiengeschichte, wurde an diesem Tag zerstört.“
Odais Eltern flohen mit seinen jüngeren Geschwistern aus Moaddamiyeh und zogen in eine andere Vorstadt im Umland von Damaskus. Odai jedoch blieb und dachte über Möglichkeiten nach, wie er vor Ort helfen konnte.
Während der Hausdurchsuchungen durch das Regime im Jahr 2012 drangen Truppen in das Haus von Odais Onkel ein, ohne dass Odai es bemerkte. Als er realisierte, dass die Truppen im Gebäude waren, sah er seinen Cousin, mit einem Hammer in der Hand, auf dem Boden liegen.
“Er lag in einer Blutlache, hat aber noch geatmet. Wir brachten ihn ins Auto, um ins Krankenhaus zu fahren. Ich habe ein Handtuch gegen seinen Kopf gedrückt und verzweifelt versucht die Blutung zu stoppen. Aber es war vergebens. Er machte seinen letzten Atemzug, den Kopf an meine Schulter gelehnt, als die Scharfschützen des Regimes auf unser Auto schossen. Meine Kleidung war von Blut getränkt. An diesem Tag traf ich die Entscheidung im Krankenhaus auszuhelfen. Wer meinem Cousin das angetan hat, kann nur ein Monster sein. Ich weigere mich zu glauben, dass das ein menschliches Wesen gewesen sein soll. Ich hatte nur geringe Kenntnisse über erste Hilfe, aber das Personal des Krankenhauses suchte verzweifelt nach Unterstützung und sie nahmen mich auf.“
Das Krankenhaus in Moaddamiyeh war ein Keller ohne jegliches medizinische Equipment, in dem Ärzte und freiwillige Helfer mit den einfachsten Mitteln auskommen mussten. Immer in dem Bewusstsein, dass es noch mehr Opfer werden würden. Odai lernte schnell und entwickelte sich rasch vom Ersthelfer zum OP-Assistenten.
„In derart schwierigen Umständen Menschenleben zu retten war ein Wunder und das ist es noch heute! Manchmal haben wir Tage und Nächte nonstop durchgearbeitet. Die Bombardements und die Opfer nahmen zu. Die kritischste Zeit eines Opfers sind die ersten vierundzwanzig Stunden. Ich erinnere mich, dass wir viele Verletzte mit Granatensplittern im Kopf behandelt haben. Viele dieser Menschen konnten gerettet werden, obwohl niemand dachte, dass sie es schaffen würden. Die Ärzte haben wahre Wunder vollbracht.“
Odai lebte weiterhin unter der Besatzung Moaddamiyehs und half im Krankenhaus aus, wann immer Hilfe gebraucht wurde, während seine Familie in einem anderen Vorort von Damaskus lebte, von dem er ausging, dass sie dort in Sicherheit wären. Doch damit lag er falsch. Sein Vater wurde am 1. April 2013 durch Assads Beschuss getötet. Odai konnte noch nicht mal an der Beerdigung seines Vaters teilnehmen.
„Sie haben ihn umgebracht, aber er ist einer von vielen Gemarterten. Noch heute werden in Moaddamiyeh Menschen getötet.“
Odai scheint sich an jede Geschichte jedes einzelnen Opfers, das in das Krankenhaus eingeliefert wurde, erinnern zu können.
„Ich erinnere mich, dass einmal ein Mann zu uns gebracht wurde, der komplett verbrannt war. Er hatte keine Haut mehr an seinem Körper. Unsere Stadt hat seit Mitte 2012 keinen Strom. Um das zu ändern, kletterte der Mann in der Nähe der Regimetruppen einen Strommast hoch. Dabei erlitt er einen Elektroschock und jeder Zentimeter seines Körpers wurde verbrannt. Er lag sechs Monate lang im Krankenhaus. Leute aus der ganzen Stadt haben Kleidung geschickt, die als Verbandsmaterial für die Verwundeten verwendet wurde. Es fehlte selbst an den einfachsten Hilfsmitteln. Was mich jedoch wirklich trifft, ist die Tatsache, dass viele der Verletzten, die wir gerettet haben, im Jahre 2014 gestorben sind, als sie die Stadt verließen, um ihre Behandlung im Herrschaftsgebiet des Regimes fortzuführen. Das kann doch kein Zufall sein! Viele von ihnen haben Moaddamiyeh in gutem Zustand verlassen, trotz Anzeichen von Unterernährung und mangelnder medizinischer Behandlung. Dann, als sie vermeintlich volle medizinische Versorgung hatten, starben sie. Wir gehen stark davon aus, dass sie in den Krankenhäusern des Regimes umgebracht worden sind.“
Odai hat Moaddamiyeh in den letzten vier Jahren nicht verlassen und hat für sein Alter zu viel mitansehen müssen. Selbst als die Stadt mit chemischen Waffen angegriffen wurde, blieb Odai im Krankenhaus, um zu helfen.
„Ich würde nicht von mir behaupten, die stärkste Person auf diesem Planeten zu sein. Auch ich habe immer noch schwache Momente. Ich bin jedoch stets von meinen Freunden und den anderen Helfern umgeben, die mich immer wieder aufbauen und mir helfen stark zu bleiben. In gleicher Weise helfe ich auch ihnen. Wir sind immer füreinander da.“
Als ich zu einem späteren Zeitpunkt nochmal mit Odai sprach, schien er nicht zu wissen, was außerhalb von Moaddamiyeh passierte. Er lachte und sagte, dass sie keinen Strom haben und er sehr beschäftigt sei und einfach wichtigere Dinge zu tun habe, als Nachrichten zu schauen.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie hart es ist, eine verletzte Frau mit einem verletzten ungeborenen Baby in ihrem Bauch zu sehen! Als ich zum ersten Mal Blut sah und selbst eine Wunde reinigen und nähen musste, war ich ein emotionales Wrack. Solange es Syrer gibt, die ihre Würde und Rechte einfordern und kämpfen und sogar ihre Leben opfern, muss ich es weiter tun. Wir, die freiwilligen medizinischen Helfer, werden hier sein und versuchen sie zu retten und ihre Schmerzen zu lindern!“
In zwei Wochen erscheint an dieser Stelle die vierte Folge der Reihe Through Their Voices : Die Stimme des Hoffnungsgebers, ein Interview mit Adnan Abo Moustafa, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, seine Mitmenschen dabei zu unterstützen, die Hoffnung nicht zu verlieren.
Bereits erschienen sind Die Stimme des Träumers (1) / (2) und Die Stimme der Lehrerin.
Ameenah A. Sawwan ist eine syrische Aktivistin und Journalistin aus Moaddamiyeh. Sie macht in ihren Texten auf Menschenrechtsverletzungen in den Krisengebieten Syriens aufmerksam. Ihre Augenzeugenberichte des Giftgasangriffs von 2013 waren Teil einer großen Aufklärungskampagne in den USA. Ameenah A. Sawwan bringt Geschichten aus dem Inneren Syriens ans Licht und zeigt uns Seiten ihres Heimatlandes, die heute kaum mehr sichtbar sind.
Aus dem Englischen: Anna-Lena Hunold