Hend. Berlin 2016. Foto: Heike Steinweg
Hend. Berlin 2016. Foto: Heike Steinweg

Mein Fahrrad

Fahrradfahren. Klingt alltäglich? Für Hend ist es ein ganz besonderes Erlebnis.

Von Hend Alrawi, 14.07.2016

Schon als Kind liebte ich das Radfahren. Als mein Vater mir ein Fahrrad schenkte, ging für mich ein Traum in Erfüllung. Tagein, tagaus fuhr ich damit herum, unermüdlich. Ein herrliches Gefühl – wie Fliegen. Um mich herum floss alles ineinander und löste sich auf, die Probleme und Sorgen der Welt interessierten mich nicht mehr. Auf dem Fahrrad musste ich nicht vorgeben, glücklich zu sein.
Doch dann wurde ich älter. „Du kannst nicht länger Fahrrad fahren!“, hieß es. Aber warum? In unserer Gesellschaft gibt es das Wort Schande. Ein häufig genannter Grund, wenn Mädchen älter werden, der mich aber nicht überzeugte.

Die Leidenschaft für das Radfahren und die damit verbundenen Gefühle blieben. Manchmal fuhr ich im Schutz der Dunkelheit draußen auf der Straße herum, aber nicht ohne Angst, gesehen zu werden. Warum darf ein Mädchen hierzulande nicht Fahrrad fahren? Immerhin fahren die Frauen hier doch Auto. Ich verstand es nicht. Was war so schlimm daran, dass ein Mädchen Fahrrad fährt?
Dann kam ich nach Deutschland und sah Frauen, die Fahrrad fuhren. Warum auch nicht?! Mein alter Traum erwachte zum Leben. Heike, meine deutsche Freundin und mein Schutzengel, machte mich mit einer älteren deutschen Dame bekannt, die mir, weil sie selbst nicht mehr fahren konnte, ihr Fahrrad überließ. So konnte ich zum ersten Mal durch die Straßen von Berlin radeln. Die Dame war sehr freundlich und empfing uns mit Tee und Süßigkeiten. Als ich mich setzte, überreichte sie mir einen Schlüssel an einem roten Band. Ein Fahrradschlüssel. Für mein neues Fahrrad. Mein Herz machte einen Sprung. Dann führte sie mich zu dem Geschenk, einem Fahrrad mit roter Schleife. Dazu bekam ich ein Paar Handschuhe, damit ich beim Fahren warme Hände behielt. Selbst daran hatte sie gedacht. Mein Herz zersprang fast vor Freude.

Carsten, der Sohn der alten Dame und genauso nett wie sie, und Heike begleiteten mich. Heike fuhr voraus und Carsten hinter mir, damit mir auf der Straße nichts passierte.
Ich strahlte übers ganze Gesicht. Ein echtes Lachen, kein aufgesetztes, mit dem ich mich vor dem Gerede und den Urteilen der Leute schützte. Mein echtes Lachen, das ich irgendwann verloren hatte.
Ich freute mich nicht nur über das Fahrrad, sondern auch über diese wunderbaren Menschen um mich herum. Für sie war das vielleicht eine Kleinigkeit, für mich sicherlich nicht.

Das Glücksgefühl beim Fahrradfahren ließ mich Menschen, Lärm und Sorgen vergessen. Ich sah nur noch meine eigene Welt. Eine Welt, die ich in meiner Vorstellung geschaffen hatte und die ich mit niemandem teilen muss, zu dem ich kein Vertrauen habe. Ein wunderbares Gefühl. Dasselbe Gefühl, das ich hatte, als mir bewusst wurde, dass es auf dieser Welt auch Menschen gibt, vor deren Blicken ich nicht fliehen muss und vor denen ich offen mein Hobby ausüben kann. Diese Menschen geben mir das Gefühl von Sicherheit, denn sie handeln nicht aus eigenem Interesse, wovor ich immer weggelaufen bin. Sie sind hilfsbereit, weil sie einfach so sind. Sie richten nicht über mich, kritisieren mich nicht und spionieren mir nicht nach.

Vor kurzem habe ich gelesen, dass jetzt in meinem Land Mädchen Fahrrad fahren, weil es aufgrund des Kriegs Schwierigkeiten mit den Verkehrsmitteln gibt. Glückwunsch! Das ist ein sehr kleiner Schritt, aber eine Veränderung beginnt immer mit einem kleinen Schritt. Mädchen müssen sich ihr Recht nehmen, denn geben wird es ihnen niemand.

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