© Anna Spindelndreier (2020)
© Anna Spindelndreier (2020)

Wir alle brauchen Hoffnung

Die syrische Lyrikerin Lina Atfah lebt mit ihrem Mann, dem Übersetzer und Physiklehrer Osman Yousufi, in Wanne-Eickel. Beide kennen das Gefühl der Isolation nicht erst seit Corona. Über digitale Freundschaften, neue Identitäten in Deutschland und die „Systemrelevanz“ von Kultur sprachen sie mit WIR MACHEN DAS.

Von Elisabeth Wellershaus, 10.07.2020

Wie habt ihr euch gemeinsam – inmitten der deutschen Sprache – als Schriftstellerin und Übersetzer neu gefunden?

Lina Atfah: Ohne das Schriftsteller*innen-Projekt „Weiter Schreiben“ wäre ich hier nicht wirklich angekommen. Es war und ist eine enorme Stütze für mich. Schon auf praktischer Ebene: Ich hatte ja keine Ahnung davon, wie der deutsche Buchmarkt funktioniert. In Syrien habe ich als Jugendliche Texte geschrieben, die als blasphemisch wahrgenommen wurden, ich durfte die meisten meiner Arbeiten nicht vortragen. Dass ich hier in Deutschland vor Publikum lesen kann, dass ich keine Angst mehr vor den Konsequenzen meiner Worte haben muss, auch dass ich mich thematisch frei bewegen kann – das alles hat mich hier ankommen lassen. Es ist diese Freiheit, über die wir in den neuen Alltag hineingefunden haben. Für mich hat sie einen Raum geöffnet, in dem ich mich heute vorbehaltlos ausdrücken kann.

Osman Yousufi: Ich habe in Syrien Physik studiert, bin also auf Umwegen zur Literatur gekommen. Weil ich in den letzten Jahren sehr eng mit Lina zusammengearbeitet habe. Meine erste Begegnung mit der neuen Sprache hatte ich vor vier Jahren, in einem Integrationskurs. Die Beziehung zwischen mir und dem Deutschen begann also eher formell, sehr bürokratisch. So richtig angebissen habe ich erst, als ich ein ins Deutsche übersetztes Gedicht von Lina las. Auf einmal stellte sich da eine Beziehung zur neuen Sprache her. Mittlerweile übersetze ich ihre Texte und schreibe selbst auch auf Deutsch. Vielleicht, weil ich mich als Schreibanfänger – im Gegensatz zu Lina – in der Distanz zur unbekannteren Sprache sicherer fühle als im Arabischen.

Lina, du schreibst seit deinem sechzehnten Lebensjahr. Wie haben deine Inhalte sich verändert, seitdem du Syrien verlassen hast und in Deutschland angekommen bist?

LA: Als ich hier ankam, wurde ich von ständigen Ängsten geplagt, ich habe sehr viel über Syrien nachgedacht. Über die Revolution und über zurückgelassene Menschen. Immer wieder tauchte die Frage nach dem Warum auf. Es hat lange gedauert, bis ich den Verlust akzeptieren konnte. Erst auf die Akzeptanz folgte das Handeln. Und auf einmal stellte sich mir die Frage: Wie kann ich weitermachen? Ich begann, über den Verlust zu schreiben und schließlich über meine neue Identität in Deutschland. Darüber sind viele weitere Fragen für mein Schreiben entstanden. Soziale und politische Themen treiben mich weiterhin um, aber aus neuer Perspektive. Manche der Texte, die ich in Syrien geschrieben habe, bringen mich heute zum Lachen. Weil ich meine poetische Persönlichkeit dort noch nicht gefunden hatte und man meinem Schreiben die fehlende Reife so deutlich anhört.

Ihr lebt in Wanne-Eickel, einer relativ kleinen Stadt. Wie habt ihr die Situation der vergangenen Monate von dort aus wahrgenommen?

LA: Zunächst mal ist die Situation mit Corona in Deutschland natürlich deutlich leichter auszuhalten als an anderen Orten. In Ländern wie Syrien war und ist sie ungleich schlimmer. Wir haben hier eine luxuriöse Versorgungslage: Lebensmittel, Medizin, alles ist vorhanden. Trotzdem haben wir uns anfangs große Sorgen gemacht. Vor allem um meinen Vater, der an einer chronischen Herzerkrankung leidet und sehr auf sich aufpassen musste. Meine Eltern wohnen ganz in der Nähe und gehören zu den wenigen engen Kontakten, die wir in Wanne-Eickel haben. Normalerweise treffen wir sie täglich, aber seit Ausbruch der Pandemie haben wir sie wochenlang nicht gesehen. Mich hat das auf ungute Weise an die drei Jahre erinnert, in denen wir voneinander getrennt waren, bevor sie von Syrien nach Deutschland nachkommen konnten.

Ihr pflegt engen Austausch mit Schriftsteller*innen in ganz Deutschland. Wie hat der sich in den Monaten der Isolation verändert?

OY: Ein Stipendium von Lina lief komplett über das Internet. Andere Kulturinstitutionen, mit denen wir zu tun hatten, waren auch extrem flexibel, haben schnell auf digitale Formate umgestellt. Uns hat das tatsächlich ein Stück weit aus der Isolation geholt, in der wir hier normalerweise leben. Weil digitale Verbindungen auf einmal für alle wichtig wurden. Die meisten unserer Freund*innen leben nicht hier, sondern in Berlin, Hamburg oder Stuttgart. Schriftsteller*innen wie Nino Haratischwili oder Annika Reich. Wenn wir mit ihnen zusammen an Texten arbeiten, haben wir das Gefühl, in dieser Gesellschaft dazuzugehören. Diese Gemeinschaft, in der wir uns aufgehoben fühlen, war in den letzten Monaten auch digital sehr präsent. Auch wenn wir sie natürlich lieber getroffen hätten.

Habt ihr in diesen Zeiten mehr geschrieben als sonst?

LA: Am Anfang habe ich kaum geschrieben, ich war sehr durcheinander. Im Laufe der Zeit habe ich mich an die Umstände gewöhnt und viel an meinem aktuellen Roman gearbeitet. Die Quarantäne war eine Zeit der Stille, in der ich mich gut auf bestimmte Erinnerungen konzentrieren konnte, die für mein Schreiben im Moment wichtig sind. Mein Roman wird autobiografische Züge tragen, es soll um meine Familie, meine Heimatstadt Salamiyah und meine Migration nach Deutschland gehen. Als ich plötzlich im Thema drin war, habe ich so viel gelesen und geschrieben, dass ich es selbst kaum glauben konnte. Organisatorisch war die Zeit natürlich trotzdem nicht leicht. Ich musste oft ins Jobcenter, meine Lesungen, von denen ich normalerweise ganz gut leben kann, sind reihenweise ausgefallen. Auch der Austausch mit dem Publikum fiel weg und ich vermisse die Bühne sehr.

Dafür kann ich mich jetzt auf meinen Sprachkurs konzentrieren. Auch darauf, zwischen den Sprachen zu navigieren: auf Arabisch zu schreiben und Deutsch zu sprechen. Und ich habe Fahrrad fahren gelernt. Osman hat es mir beigebracht, damit wir jeden Tag eine kleine Tour machen konnten. All das hat den Schreibprozess am Ende auch beflügelt.

In den vergangenen Monaten war immer wieder von systemrelevanten Berufen die Rede. Würdet ihr sagen, dass auch die Kultur systemrelevant ist?

LA: Ich würde zumindest sagen, sie ist überlebenswichtig. In Kriegszeiten sowieso, aber auch während einer Pandemie wie der aktuellen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Menschen in Ausnahmesituationen Hoffnung brauchen. Sie brauchen Antworten genauso wie Ablenkung. Ich schlafe immer noch kaum mehr als drei Stunden am Stück. Etwas in mir glaubt noch nicht an die relative Sicherheit, in der wir heute leben. Immer habe ich das Gefühl, ich müsste so schnell wie möglich alles aufschreiben, was mir durch den Kopf geht – bevor mir der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Zum Glück arbeiten Osman und ich eng miteinander und können uns immer austauschen. Aber auch der Austausch über soziale Medien hilft. Für mich ist das Internet ein Ort, an dem ich Gedichte genauso teilen kann wie meinen Alltag. In manchen Nachrichten, die ich bekomme, steht: „Du gibst uns Hoffnung“ oder „Du bringst uns zum Lachen.“ Genau das inspiriert mich, das Gefühl, nicht alleine zu sein.

OY: Ich denke auch, dass Kultur enormen gesellschaftlichen Einfluss hat, auch wenn sie nicht so offensichtlich an der Oberfläche wirkt. Man muss sich auf sie einlassen, damit sie das eigene Leben durchdringt. Lina und ich haben selbst erlebt, wie wichtig Kultur und kreativer Austausch für einen stabilen Staat sind. Ohne diesen Austausch laufen Gesellschaften schnell Gefahr, sich selbst zu verlieren. Natürlich sind ärztliche Hilfe, Lebensmittelversorgung und der Blick auf die Wirtschaft in Krisen besonders wichtig. Aber das ist nicht alles. Vielleicht können wir die Erfahrungen der letzten Monate in Deutschland dafür nutzen, um uns an die Relevanz und Bedeutung von Kultur zu erinnern.

Lina Atfah und Osman Yousufi, Wir machen das, Meet your Neighbours,
© Anna Spindelndreier (2020)

Wie wird aus Unbekanntem Vertrautes? Diese Frage stellt sich WIR MACHEN DAS seit Jahren in einer Gesprächsreihe über Berufe – bei Meet Your Neighbours. Mit Corona ist das direkte Gespräch vorerst nicht mehr möglich. Deshalb stellen wir  im Magazin Menschen vor, die aus migrantischer Perspektive von ihrer Arbeit erzählen. Hier finden Sie alle Beiträge der Serie.

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