In ihrer Fotoserie „Here is everything as 22 stars :-)“ begleitet und dokumentiert die Fotografin Merlin Nadj-Torma bereits seit 2011 das Leben der Geflüchteten in illegalen Camps an der serbisch-ungarischen Grenze, am Tor zu Europa. Im Kurzinterview erzählt sie von ihren persönlichen Erfahrungen.
Von Maritta Iseler, 12.12.2016Die Arbeit wurde im Herbst 2015 in der PAST IS NOW-Ausstellung des FOTODOKS-Festivals für aktuelle Dokumentarfotografie gezeigt und tourt zurzeit durch die Länder des ehemaligen Jugoslawiens.
WIR MACHEN DAS: Für Deine Fotoserie „Here is everything as 22 stars :-)“ mit Fotografien von Geflüchteten an der serbisch-ungarischen Grenze hast Du den ZEITmagazin Fotopreis bekommen. Wie hast Du Dich dem Thema genähert und was war Dir besonders wichtig?
Merlin Nadj-Torma: Ich habe zu dem Zeitpunkt in Serbien gelebt und als Freiwillige bei sozialen Projekten mitgearbeitet. So habe ich von dem illegalen Camp auf dem Gelände einer stillgelegten Ziegelfabrik erfahren, wo Geflüchtete die Zeit bis zur Weiterreise in die EU überbrückt haben. Damals waren es hauptsächlich Menschen aus Afghanistan und Pakistan. Ich wollte sehen, wie sie leben, was sie denken. Besonders hat mich interessiert, was die Beweggründe sind, solch eine beschwerliche und gefährliche Reise auf sich zu nehmen. Oft waren es ähnliche Träume und Wünsche, die auch mein Vater hatte, als er als Gastarbeiter vor über 40 Jahren nach Deutschland kam. Das hat mich sehr bewegt, zumal ich weiß, dass die Realität hier in Deutschland ganz anders aussehen kann.
Wichtig war mir, dass die Menschen in meiner Arbeit selber zu Wort kommen, und nicht ich über sie spreche.
Wie bist Du konkret vorgegangen?
In dem Jahr, das ich mit Unterbrechungen mit den Geflüchteten verbracht habe, habe ich SMS gesammelt, die ich von ihnen erhalten habe. Später habe ich diese mit meinen Fotos kombiniert. Die Nachrichten geben die Gedanken der Menschen wieder, ihren Alltag, die Sorgen, aber auch die Hoffnungen. Sie ergänzen die Fotos um eine weitere Ebene.
Welche Erfahrungen nimmst Du als Fotografin und als Mensch mit aus dem Projekt?
Sehr viele. Als Fotografin ist mir noch einmal bewußt geworden, welche Verantwortung ich gegenüber den von mir fotografierten Menschen trage. Das kann auch bedeuten, dass das eigene Projekt nicht oberste Priorität hat. Zudem habe ich gelernt, dass Langzeitprojekte Vor- und Nachteile haben. Man bekommt natürlich ein tieferes Wissen und kann engere menschliche Verbindungen aufbauen. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, dass man bei einem Projekt wie diesem Teil des Systems wird, das man fotografiert, was nicht immer von Vorteil ist. So hatte ich nach einiger Zeit Schwierigkeiten mit Behörden und Schleppern, aber auch Geflüchteten, die dachten, ich würde für die Polizei arbeiten.
Als Mensch nehme ich leider eine gewisse Enttäuschung Autoritäten gegenüber mit. Im Camp gab es eine hochschwangere afghanische Frau. Niemand fühlte sich zuständig. Ihr kleiner Sohn kam dann auf einer Tankstelle zur Welt. Ich habe aber auch viele Momente erleben dürfen, wo sich Einzelpersonen für Geflüchtete stark gemacht haben. Hauptsächlich waren es Menschen, die selber nicht viel hatten und ums eigene Überleben kämpften.
Mir wurde auch noch einmal vor Augen geführt, wie privilegiert ich bin. Und dass ich diese Privilegien nicht nur geniessen, sondern auch dazu nutzen sollte, andere Menschen zu unterstützen, die nicht die gleichen Chancen im Leben haben wie ich.
Du bist Tochter von Migranten, die der ungarischen Minderheit in Serbien angehören und beschäftigst Dich viel mit Identität und Migration. Fühlst Du Dich in Deutschland „angekommen“?
Ich bin ja in Deutschland geboren und hier aufgewachsen. Daher mußte ich nicht wirklich „ankommen“. Trotzdem habe ich eine sehr emotionale Verbindung zu der Heimat und Kultur meiner Eltern und bin mit einer anderen kulturellen Prägung aufgewachsen als meine deutschen Freunde. Ganz konkret merke ich das, wenn es um Fragen wie Familie, Gastfreundschaft oder auch Humor und Privatsphäre geht. Da bin ich schon sehr südosteuropäisch geprägt.
Als Kind z.B. dachte ich, wenn ich auf Kindergeburtstagen war und dort nicht gleich etwas zu Trinken angeboten bekommen habe, dass man mich nicht mag. Bei uns zu Hause wäre so etwas nämlich unvorstellbar gewesen. Dort wurde alles aufgetischt und Gäste fast schon zum Essen und Trinken genötigt, was dann auch schon wieder nervig sein konnte.
Wenn mit „Ankommen“ Integration gemeint ist, dann bin ich angekommen. Oft wird in Diskussionen Integration aber mit Assimilation verwechselt. Das bin ich nicht. Zum Glück! Denn ich empfinde es als enormen Vorteil, mit zwei unterschiedlichen Kulturen und zum Teil auch unterschiedlichen Werten aufgewachsen zu sein. So habe ich ganz nebenbei gelernt, Dinge und Begebenheiten in Frage zu stellen und im Kontext zu sehen. Und auch, dass es oft unterschiedliche Werte gibt, ohne dass der eine besser oder schlechter ist als der andere. Und ich kann mir aus den beiden Kulturen das aussuchen, was mir in der jeweiligen Situation angebrachter erscheint.
Was kann Deiner Meinung nach die Aufgabe der Fotografie heutzutage sein?
Zum Nachdenken anregen. Fragen stellen. Hoffnung vermitteln. Und manchmal auch einfach nur: schön sein. Auch wenn ich selber manchmal daran zweifle, glaube ich insgeheim doch daran, dass Fotografie etwas bewegen kann. Vielleicht wird sie keine Kriege stoppen, aber sie kann einzelne Menschen zum Handeln bewegen.
An was für einem Projekt arbeitest Du im Moment?
Ich habe kürzlich ein Projekt zum Thema Glauben abgeschlossen, mit dem ich den Betrachter der Arbeit anregen möchte, sich selbst zu fragen, wo er oder sie zum Glauben steht. Für dieses Projekt bin ich gerade auf der Suche nach einer Ausstellungsmöglichkeit.
Parallel dazu möchte ich nun tatsächlich nach Jahren auch mein Buch zu „Here is everything as 22 stars :-)“ im Eigenverlag veröffentlichen. Es soll Anfang 2017 erscheinen.
Merlin Nadj-Torma studierte an der Hochschule für Angewandte Kunst in Hannover Fotografie, bevor sie nach Berlin wechselte und dort als Fotostudentin Photostories und Audio-Slideshows produzierte.
Als Tochter von ungarischen Migranten aus der Vojvodina in Nordserbien – einer Region, die für ihre ethnische Vielfalt und ihre friedliche Koexistenz bekannt ist – wuchs sie dreisprachig auf. Sie interessierte sich schon früh für Identität und Ethnizität. Thematisch stehen in ihren Arbeiten Menschenrechtsfragen, Migration, ethnisch gemischte Gebiete und die daraus resultierenden Konflikte im Mittelpunkt.