Die Menschen im syrischen Moaddamiyeh, westlich von Damaskus, leben unter schwierigsten Bedingungen. Hier erzählen sie von ihren Erfahrungen, Anstrengungen und Hoffnungen. Through Their Voices ist eine Interviewserie mit zehn syrischen Aktivisten aus der belagerten Stadt. Es ist höchste Zeit, dass ihre Stimmen Gehör finden.
Von Ameenah A. Sawwan, 06.06.2016Dies ist der zweite Teil des Interviews mit Ammar Ahmad „Die Stimme des Träumers“.
Der Zustand in der belagerten Stadt wurde immer gravierender und die Zivilgesellschaft hatte bereits den Tod von zwölf Menschen zu verzeichnen, die schlichtweg verhungert waren. Die Menschen in Moaddamiyeh dachten, dass es nicht mehr schlimmer werden könnte – bis zu dem Tag, an dem die Kräfte des Regimes chemische Raketen auf die Stadt abfeuerten.
Am Morgen des 21. August 2013 lag Ammar mit seinen Freunden wach, als sie ein seltsames Pfeifen vernahmen. Das Geräusch wiederholte sich mehrmals und kurz darauf hörten sie Menschen um Hilfe schreien. Sie eilten zu ihnen und sahen, dass die Straßen von einem weißen Pulver bedeckt waren, von dem niemand wusste, was es war. Das Regime hatte die Kellerräume getroffen, in denen die Zivilisten beteten, seit die Moscheen ausgebombt waren. Es war die Zeit des Fajer, dem frühen Morgengebet, und der Ort war voller Menschen.
„Ich ging die Treppe hinunter und sah die Menschen in einem schrecklichen Zustand. Sie zuckten unter Krämpfen, ihre Pupillen waren verengt und die Art, wie ihre Körper zitterten, sah furchterregend aus. Ihre Augen waren zwar weit aufgerissen, aber sie schienen in einer anderen Welt zu sein. Ich habe versucht, die mir nächste Person nach oben zu tragen, doch als ich begann die Treppen hochzusteigen, fühlte ich, dass meine Kräfte mich verließen. Ich trug den Mann auf meiner Schulter, doch wir fielen mehrmals zu Boden. Ich habe wiederholt versucht die Treppe nach oben zu steigen, aber das ist das auch Letzte, woran ich mich erinnere. Danach lag ich fast zehn Tage im Koma und selbst nachdem ich aus dem Koma erwacht bin, war ich für einen Monat lang nicht richtig bei mir. Erst dann erfuhr ich, dass wir mit Chemikalien angegriffen worden waren!“
Ammer gehörte zu den schwerverletzten Opfern des chemischen Angriffs an diesem Tag. Moaddamiyeh verlor insgesamt zweiundachtzig Zivilisten durch das sogenannte “chemische Massaker”.
Nach einiger Zeit hatte Ammar sich vollständig erholt und setzte umgehend seine Arbeit fort. Er wollte auch weiterhin seine belagerte Stadt unterstützen und versuchen sie und ihre Bürger zu verteidigen. Doch die Situation wurde immer schwieriger. Vor allem für Dutzende von Kindern, die während der langen Belagerung und der damit einhergehenden Lebensmittelblockade an Unterernährung litten.
Das Regime arbeitete an einem vagen Waffenstillstandsabkommen, das auch vorsah, alle Gefangenen von Moaddamiyeh freizulassen. Es sollte ermöglichen, dass alle Arbeitnehmer und Studenten auch weiterhin ihrer Arbeit bzw. ihrem Studium nachgehen können. Außerdem hieß es, das Regime müsse alle Streitkräfte, die die Stadt seit etwa Mitte 2011 umgaben, abziehen und alle Übergänge in die Stadt öffnen.
Letztendlich hat das Regime die Übergänge jedoch nur für ein paar Monate geöffnet und mehr als zweihundert Zivilisten verhaftet, die während dieser Zeit versuchten in die Stadt ein- oder auszureisen. Zwischenzeitlich war es den Menschen gestattet Nahrungsmittel in die Stadt zu bringen, jedoch nur in bestimmten Mengen, die maximal für ein oder zwei Tage ausreichten.
Diese Taktik sorgte dafür, dass die Bewohner auch weiterhin hungerten, da sie nicht in der Lage waren Nahrungsmittel zu bevorraten. Das sollte sie daran erinnern, dass das Schicksal ihrer Stadt und ihr Überleben auch weiterhin in den Händen des Regimes lag. Eine der Bedingungen des Regimes für den Waffenstillstand war es, auf der höchsten Stelle Moaddamiyehs die Flagge des Regimes zu hissen: das Symbol des Sieges.
„An diesem Tag weinte ich wie ein kleines Baby! Das war nicht das, wofür wir gekämpft hatten! Wir haben mehr als zweitausendfünfhundert Männer und Frauen verloren und mehr als eintausendfünfhundert waren noch in Haft. Ich fühlte mich so zerschmettert, aber wir hatten keine andere Wahl, nachdem wir von den internationalen Bemühungen wiederholt enttäuscht worden waren.“
Nach einem Monat der Verzweiflung entschieden Ammar und seine Freunde, dass nichts den Glauben an das, was sie im Jahr 2011 begonnen hatten, zerstören sollte. Diese Entschlossenheit war für sie der wahre Sieg über das Regime, dem es ja in erster Linie darum ging, ihren Willen zu brechen. Ammar arbeitete hart daran, das Büro der Vereinten Nationen in Damaskus unter Druck zu setzen, um humanitäre Hilfe nach Moaddamiyeh zu bringen. Er musste das Risiko auf sich nehmen, ins Zentrum von Damaskus zu reisen, in ein Gebiet, das vom Regime kontrolliert wurde. Dort musste er die Einfuhr von Hilfsmitteln verhandeln. Im Juli 2014 konnten er und seine Mitstreiter dann endlich einen Erfolg in ihren Verhandlungen verzeichnen.
Die Zeit verging und das Regime ließ die Übergänge auch weiterhin kontinuierlich öffnen und wieder schließen und nutzte die Bedrohung durch Hunger als Waffe. Seit fünf Monaten waren die Übergänge nun schon geschlossen.
Ammar und seine Mitstreiter arbeiteten daran den Bürgern zu helfen, die unter der Belagerung des Regimes litten. Die Stadt hat fast 45.000 Einwohner – eine zu große Menge an Menschen, für eine so kleine Gruppe von Aktivisten. Ammar musste sich als extrem multitaskingfähig erweisen. Man sah ihn überall helfen, auf die unterschiedlichsten Arten und bei verschiedensten Tätigkeiten, immer bot er eine helfende Hand, wenn er gebraucht wurde.
Trotz allem befindet sich Moaddamiyeh jetzt, im Jahre 2016, wieder unter Belagerung. Die Tatsache, dass dreizehn syrische Gegenden unter Belagerung stehen, ist für den Rest der Welt zur Normalität geworden. Die Menschen in Moaddamiyeh haben begonnen selbst anzupflanzen, um die Belagerung zu besiegen. Ammar ist inzwischen verheiratet und hat ein wundervolles Baby namens Mela. Trotz allem, was er durchmachen musste – das Leben ging weiter. Er ist jedoch noch immer so entschlossen, wie er es im Jahr 2011 war, als er mir sagte:
„Ich träume von einem Syrien ohne Waffen und ohne Unterdrückung. Wir sind ein friedliches Volk, aber wir werden gezwungen Waffen zu besitzen, um unser Leben und unsere Familien zu verteidigen. Waffen waren die letzte Wahl nach fast fünf Jahrzehnten unter Assads Herrschaft. Es gibt auf der Welt keinen vergleichbaren Ort. Dutzende wurden in Syrien getötet während sie bei Demonstrationen Rosen und Banner hielten. In Syrien wurden Waffen auf uns gehalten, als wir für das friedliche Leben, das wir uns wünschen, gegen Assad demonstrierten. Nach allem was passiert ist, glaube ich noch immer daran, dass ich meinen Träumen nah sein könnte, vielleicht näher, als ich je gedacht habe.“
Ammar beendete unser Gespräch, indem er hinzufügte: „Was wir in Syrien brauchen, ist Assad loszuwerden und wenn das eintritt, das kann ich versichern, wird niemand mehr Waffen sehen. Die Syrer hassen Waffen. Sobald wir mit Assad fertig sind, werden die Menschen wieder zur Schule und zur Arbeit gehen und ein normales Leben führen. Das normale Leben, das sie nie führen konnten, während das Regime regierte. Sobald sich nur drei Personen auf der Straße unterhielten, wurde sofort angenommen sie seien Teil der Opposition und in politische Gespräche verstrickt. Wir baten um Menschenrechte und sind nun dazu gezwungen um humanitäre Hilfe zu bitten. Das war nie Teil unseres Plans! Die Syrer müssen das bekommen, worum sie zuerst baten: Menschenrechte.“
In zwei Wochen interviewt Ameenah A. Sawwan in Die Stimme der Lehrerin Rasheeda Dawood, eine Grundschullehrerin aus Moaddamiyeh.
Ameenah A. Sawwan ist eine syrische Aktivistin und Journalistin aus Moaddamiyeh. Sie macht in ihren Texten auf Menschenrechtsverletzungen in den Krisengebieten Syriens aufmerksam. Ihre Augenzeugenberichte des Giftgasangriffs von 2013 waren Teil einer großen Aufklärungskampagne in den USA. Ameenah A. Sawwan bringt Geschichten aus dem Inneren Syriens ans Licht und zeigt uns Seiten ihres Heimatlandes, die heute kaum mehr sichtbar sind.
Aus dem Englischen: Anna-Lena Hunold