Die syrische Journalistin Hiba Obaid hat die Familie Wafa in Herzberg besucht. Hier schreibt sie über vier unterschiedliche Schwestern, die jede auf ihre Art in Deutschland angekommen sind.
Von Hiba Obaid, 21.03.2019Fotos: Inga Alice Lauenroth
In Herzberg, zwei Stunden von Berlin entfernt, wohnt seit März 2016 die Familie Wafa. Die Eltern leben mit ihren vier Töchtern und einem Sohn in zwei zusammengelegten Wohnungen. Als ich sie besuche, erfüllt der Geruch von Essen die Räume, die vier Mädchen bereiten gerade den Tisch vor. Jede hat dabei ihre Aufgabe: die Erste füllt die Teller mit Essen, die Zweite deckt den Tisch, die Dritte bestimmt die Anordnung des Tisches und die Vierte wäscht das schmutzige Geschirr ab.
Nach Herzberg und ins Haus der Familie Wafa zu kommen, ist fast so, als käme man ins lebendig pulsierende Herz dieser kleinen Stadt.
Neuanfang im „Land der Möglichkeiten“
Die Familie stammt aus Kabul, Afghanistan, und obwohl die Situation schon lange unsicher war, konnten sie sich erst spät durchringen nach Deutschland zu fliehen. Der Moment für die Entscheidung kam schließlich, als der fünffache Vater mehrfach von den Taliban verhaftet worden war und die Bombenanschläge in der Stadt einfach nicht aufhörten. Der Vater arbeitete als Übersetzer für deutsche Soldaten in Afghanistan.
Land der Möglichkeiten – so nennen die Wafas Deutschland. Erst hier angekommen, begannen sie, sich wirklich wieder lebendig zu fühlen. Stolz blickt der Vater auf seine Kinder. Die Töchter sprechen während der Essensvorbereitung leise miteinander, stellen viele Fragen. Sie sind seine vier „Schmetterlinge“, jede trägt um den Hals eine Kette mit dem Viertel eines Herzens. Ich merke, wie eng sie miteinander verbunden sind, dennoch hat jede auch ihre ganz eigene Geschichte zu erzählen.
Maria: Zielstrebig für Gleichberechtigung
Die älteste Tochter Maria (33) hat Philosophie und Soziologie an der Universität in Kabul studiert und in vielen Projekten gearbeitet, die sich für Frauen einsetzen. Sie scheint als älteste immer ein wenig auf der Hut, trägt viel Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister. Schon mit ihrer Namensgebung waren im Herkunftsland Konflikte verbunden. „Als mein Vater mich Maria nannte, wurde er von den Taliban verhaftet. Sie sagten, das sei kein muslimischer Name.“ Ihr Vater versprach, ihn zu ändern, aber er tat es nicht, weil er ihn mochte. „Es ist Teil des Islams, andere Religionen zu respektieren, auch die Mutter von Jesus“, sagt Maria. Vermutlich kein Zufall, dass sie sich als Erwachsene eine Arbeit gesucht hat, die Frauen in ihrer Unabhängigkeit unterstützt.
In einem kleinen Dorf in der Nähe von Kabul hat sie mit Frauen zusammengearbeitet, die dort vor allem Obst anpflanzten. Sie hat ihnen erklärt, wie sie mit der Ernte Geld verdienen können und ihnen beigebracht, wie man Obst und Marmeladen verkauft. „Die Frauen waren glücklich, weil sie bereits geahnt hatten, dass sie eigenständig Geld verdienen konnten, dass sie nicht nur auf ihre Männer angewiesen waren“, sagt Maria. Sie sagt, eine Frau könne frei sein, sich auf sich selbst verlassen und auch ohne Vater, Bruder oder Ehemann einiges schaffen. Doch als die Taliban das Dorf stürmten, änderte sich alles; es war sehr schwierig weiterzuarbeiten. „Die letzte Zeit in Afghanistan war von Angst geprägt, der Angst vor den Taliban“, erzählt Maria. Ich habe mich nicht mehr getraut, alleine durch die Straßen zu gehen. Erst hier fühle ich mich wieder sicher, es gibt niemanden, der mich sozial unter Druck setzt – mit Kopftuch oder ohne, hier kann ich leben.“
Ich lerne Maria als eine sehr starke Frau kennen. Eine mit klaren Zielen: In Deutschland möchte sie nach Abschluss ihrer Sprachausbildung als Frauenrechtlerin arbeiten. Aber auch die Verbindung zu ihrem Herkunftsland und zu ihrer Familie ist für sie immer noch wichtig. „Ich liebe das Afghanistan, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, weil es mich an meine Kindheit erinnert“, sagt sie. „Aber jetzt ist die Familie das Wichtigste für mich. Mein Vater und meine Mutter haben im Schatten der Kriege in Afghanistan sehr gelitten, und ich werde nie vergessen, was sie für mich getan haben.“ Maria selbst ist noch nicht verheiratet, was ihr immer wieder neugierige Fragen anderer afghanischer Frauen einbringt, denn sie ist im passenden Alter. Aber sie ignoriert das. Es sei schließlich ihr Leben, auch wenn die Zukunft noch unklar ist. „Ich fahre jeden Tag nach Berlin, um im B2 Deutschkurs zu lernen, ich verbringe dafür den ganzen Tag in Zügen. Aber ich möchte beruflich viel erreichen.“
Hasina: Auf der Suche nach eigenem Leben in Herzberg
Hasina (29) hat in Afghanistan Geographie studiert und in Kabul als Lehrerin an einer privaten Universität gearbeitet. Im Gespräch wirkt sie sensibel, schnell kommen ihr die Tränen, und sie erzählt, dass es ihr nicht leicht fällt, in Deutschland anzukommen.
„In Kabul war das Leben laut und voller Aufregung, hier in Herzberg gehe ich die Straße entlang und sehe niemanden“, erzählt sie. Deutschland sei ein sicheres Land, sie habe viele Freiheiten, aber das sei eben nicht alles. „Ich mag das Wetter, nass und erfrischend. Aber auch die Leute hier sind anders. Bei uns ist Gastfreundschaft sehr wichtig, aber hier fühle ich mich oft nicht willkommen.“ Nach ihrer Ankunft wurde Hasina so nervös und deprimiert, dass sie für anderthalb Monate ins Krankenhaus musste. „Ich finde keinen Anschluss und höre immer wieder Beleidigungen, viele denken wahrscheinlich ich sei eine Person ohne Heimat, Geschichte und Ausbildung.“
So beschreibt Hasina die Wahrnehmung jener, denen sie entgegnen möchte, dass sie ein Leben in Afghanistan hatte – eines, dass ihr durch die Kriege verloren ging. Sie möchte ihnen sagen, dass es nicht einfach ist, mit 28 Jahren wieder wie ein Kind mit dem Sprachenlernen zu beginnen. Dass sie, wie ihre ältere Schwester, das Ziel habe, hier anzukommen.
„Aber es ist sehr schwierig ohne Freunde, Nachbarn oder Arbeit neu zu beginnen. Ich möchte schnell Deutsch lernen, um wieder zu unterrichten.“
Fahranaz: Sprache als Zugang zur Welt
Fahranaz (20) zieht sich gerne in ihre eigene Welt zurück. Dann sitzt sie versunken da, malt und liest viele Bücher. Zur Sprache hat sie eine ganz eigene Beziehung – auch bei ihr fängt es schon mit dem Namen an. „Er bedeutet süß, hat mein Vater mir erklärt. Und ich liebe ihn, obwohl er für meine deutschen Freunde etwas schwer auszusprechen ist.“ Fahranaz liebt ihren Namen, weil er Teil ihrer Muttersprache ist, die Sprache, die sie manchmal vermisst. „Ich kann stundenlang dasitzen und lesen. In den Büchern finde ich eine andere Welt. Und in dieser Welt kontrolliere ich alles; weil ich die Sprache gut spreche. In dieser Sprache kann ich Fragen stellen und tun, was ich mag.“
In Afghanistan ist Fahranaz zur Schule gegangen – hier muss sie nun vieles ganz neu lernen. Vor allem die Sprache – doch sie weiß, dass sie das schaffen wird und blickt zuversichtlich in die Zukunft. „Als ich in Afghanistan war, habe ich mir Deutschland wie ein Traumland vorgestellt. Als ich dann aus Kabul in diese kleine Stadt hier kam, war ich ein wenig geschockt.“ Fahranaz geht jeden Tag zur Schule und wieder nach Hause. Daneben gibt es keine Aktivitäten: kein Theater, keine Konzerte. Sie träumt von dem Tag, an dem sie nach Berlin zieht, um dort an der Universität der Künste zu studieren, ins Kino zu gehen und ins Großstadtleben einzutauchen.
Anbarin: Neue Freunde und neue Hoffnung
Anbarins Name bedeutet schöner Klang. Sie ist 18 Jahre alt und, obwohl sie die jüngste der Schwestern ist, die Sprecherin der Wafas. Auch für sie hat in Herzberg ein neues Leben begonnen, an das sie sich erst gewöhnen musste. „In Kabul musste mein Bruder dabei sein, wenn ich mit meiner Schwester Fahranaz zur Schule ging, für zwei Mädchen war es alleine auf der Straße zu unsicher. Jetzt kann ich rausgehen, ohne dass gleich etwas passiert. Die Sicherheit und Freiheit als Frau schätze ich sehr.“ Und doch vermisst sie Afghanistan.
„Es ist schwer zu beschreiben, Afghanistan ist meine Heimat, mein Land, an dem ich alles vermisse, die Straßen, die Menschen, das Leben dort.“ Auch die Sprache für die Dinge des Alltags. Zu Beginn ihrer Zeit in Deutschland hatte Anbarin große Schwierigkeiten, den Schulstoff zu bewältigen.
„Das erste Jahr in der Schule war katastrophal. Ich kam jeden Tag nach Hause und weinte, weil ich so vieles nicht verstand. Aber ich habe trotz allem nicht aufgegeben.“ Seit diesem Jahr geht es Anbarin viel besser. Sie hat viele Freunde, außer ihr sind im Unterricht fast alle deutsch. „Und sie machen mir Hoffnung – mit ihnen zu sprechen ist mittlerweile viel leichter geworden.“ Neben Zeit mit den Freunden sind ihr Eltern und Geschwister wichtig. Auch hilft sie anderen gerne dabei, ihre Sprachschwierigkeiten zu überwinden und übersetzt für sie.
Wenn sie über ihre Zukunft sprechen, klingen die Wafas zuversichtlich. Natürlich gibt es auch Ängste, aber sie scheinen den Familienzusammenhalt nur zu stärken. Die Familie gibt den Wafas die nötige Kraft, mit ihren neuen Aufgaben zu wachsen.
Der Artikel ist im Rahmen unseres Tandem-Projekts mit dem Titel „WIR SIND VIELE. Geschichten aus der Einwanderungsgesellschaft“ entstanden und wurde initiiert von WIR MACHEN DAS.
Das Tandem für diesen Text bildeten Hiba Obaid und Inga Lauenroth.