Spurensuche zwischen den Sprachen

Der kurdischstämmige Pfleger Apo betreut seit Jahren einen querschnittsgelähmten Patienten in einem kleinen Ort im Landkreis Barnim. Bevor er vor über zwanzig Jahren aus der Türkei floh, hatte er in der Telekommunikationsbranche gearbeitet. Bei einem Treffen in Brandenburg erzählt er der Journalistin Cosima Grohmann und der Fotografin Sonja Hamad, wie er zu seinem heutigen Beruf kam.

Fotografin: Sonja Hamad

Von Cosima M. Grohmann, 03.07.2020

Der Pfleger Apo mit medizinischen Geräten. Foto: Sonja HamadDie Strecke von Berlin-Gesundbrunnen nach Eberswalde ist kurz: Nur 25 Minuten braucht die Regionalbahn – raus aus der Stadt, hinein in Berlins Speckgürtel. Die Fotografin Sonja Hamad und ich sind auf dem Weg zu Apo, einem kurdischen Pfleger aus der Türkei, der seit zehn Jahren einen komplett gelähmten Patienten in einem kleinen Dorf im Landkreis Barnim betreut.

Heute ist Markt in Eberswalde. Apo hat uns vom Bahnhof abgeholt und jetzt sitzen wir mit unseren Masken im Gesicht etwas abseits auf einer Bank in der dörflichen Kulisse des Vorortes. Viele ältere Menschen sind hier unterwegs, Familien kaufen frisches Obst und Gemüse aus regionalem Anbau. Die kleinen Fachwerkhäuser und restaurierten Gebäude in Pastellfarben schaffen eine heimelige Atmosphäre. Apo ist 57. Er trägt einen leicht ergrauten Pferdeschwanz, seine Augen schauen ruhig und klar durch eine randlose Brille. Doch wenn er anfängt in schnellen Sätzen zu erzählen, von seiner Flucht aus der Türkei als politisch verfolgter Kurde, von der Familie und den ersten Jahren in Deutschland, fahren seine Hände lebhaft durch die Luft. Als er 1999 hier ankam, galt die Gegend um Eberswalde als Hochburg der neonazistischen Szene und rechtsextremen Gewalt. „Mittlerweile kann ich hier gut leben“, sagt er. Angst, beim Joggen, Einkaufen oder Behördengängen mit rassistischen Kommentaren konfrontiert zu werden, hat er nicht mehr. „Ich bin angekommen, bin hier vernetzt, habe einen Job und eine Familie gegründet.“ Die Bedrohung komme heute eher von anderer Seite: „Wenn ich sehe, dass Geschäftsinhaber Ketten oder Tattoos mit drei Halbmonden oder einem Wolf tragen,“ – den Zeichen der rechtsextremen türkischen Partei MHP – „gehe ich ihnen aus dem Weg.“

Porträt des Pflegers Apo. Foto: Sonja HamadApos Familie ist seit Generationen politisch aktiv: „Wir alle haben Folter im Gefängnis und Verfolgung erlebt“, sagt er. „Mein Vater, meine Schwester, meine beiden Onkel – ich selbst.“ Während seines Asylverfahrens in Deutschland war für Apo klar: „Ich wollte hier arbeiten. Egal was, ich wollte etwas tun.“ Als er zum ersten Mal vor der kleinen Einrichtung stand, zu der er auf eigenes Drängen hin geschickt wurde, hatte er keine Ahnung, was darin vor sich geht. „Ich stand mit meinem Taschenwörterbuch vor dem Gebäude und schlug nach: Altenheim.“ Eigentlich ist Apo gelernter Kartograf, war bis dahin in der Telekommunikationsbranche tätig. „Aber“, sagt er lächelnd und zieht die Schultern hoch, „alte Menschen werden in meiner Kultur besonders geschätzt, ich hatte Lust auf den Beruf des Pflegers.“

Stühle und Tisch mit Kleidung. Foto: Sonja HamadBis zu diesem Zeitpunkt konnte Apo kaum Deutsch, also nahm er die Patientengespräche seiner Kolleg*innen mit dem Diktiergerät auf und ging nach seinen Schichten in die Bibliothek, um die Fachsprache zu lernen. Es war eine anstrengende Zeit, oft ging er vor Erschöpfung fiebrig zur Arbeit. „Meine damalige Chefin hat mich von Anfang an voll unterstützt“, berichtet er. Über das Altenheim entwickelte sich auch sein soziales Netzwerk: Kolleg*innen nahmen ihn mit zu privaten Feiern, die Bewohner*innen schätzten seine unkomplizierte, lustige Art, er lernte seine jetzige Frau kennen.

Der Pfleger Apo kümmert sich um einen Querschnittgelähmten, Hände. Foto: Sonja HamadDass er durch die Corona-Krise auf einmal zu den Systemrelevanten gehört, verändert seine Sicht auf die Arbeit nicht: „Natürlich ist es schön, in diesem Land ausdrücklich gebraucht zu werden“, sagt er. Und wieder einmal achselzuckend: „In der Türkei ist meine Identität mit der Annahme des deutschen Passes quasi gelöscht worden.“ Als ich ihn nach Kontakten zur kurdischen Community in seinem Umfeld frage, schaut Apo an mir vorbei. Leise sagt er: „Ich weiß nicht, ich habe die Spuren verloren.“ Sonja Hamad und ich schauen uns an. Bis jetzt hat die Fotografin sich sehr zurückgehalten, kaum mit Apo gesprochen, sie hat viel fotografiert und uns zugehört. Auf dem Rückweg zum Auto kommen die beiden ins Gespräch. Sonja ist eine syrischstämmige Kurdin, im vergangenen Jahr ist sie mit ihren Arbeiten über Guerillakämpferinnen aus Kurdistan bekannt geworden. Ich höre, wie die beiden vom Deutschen ins Kurmandschi wechseln und sich über ihre Herkunftsorte unterhalten. Wie es der Zufall will, hat Apo Verwandte in derselben Stadt, in der auch Sonjas Eltern wohnen, im nordsyrischen al-Hasaka. Ich kann spüren, wie sehr die gemeinsame Sprache die beiden verbindet.

Apo und die Journalistin im Gespräch. Foto: Sonja HamadWas passiert, wenn jemand seine Sprache gar nicht mehr als Kommunikationsmittel nutzen kann, erleben wir, als wir Apo nach unserem Treffen zu seinem Patienten begleiten dürfen: Wir kommen an einem gepflegten Einfamilienhaus an, bunte Blumen im Garten und auf der Terrasse. Nach einem schweren Verkehrsunfall liegt Apos Patient, einst Ingenieur, von den Halswirbeln abwärts gelähmt im Rollstuhl und wird von seiner Frau und einem Team von Pfleger*innen rund um die Uhr betreut. Er kann weder sprechen noch irgendetwas anderes bewegen als seine Augen und Augenlider – seit dreizehn Jahren. Nur sechs Stunden am Tag kann er ohne Beatmungsgerät verbringen. Gerade schaut er eine Sendung über Eisenbahnen. Er hört und versteht alles, mitteilen kann er sich nur über Augenkontakt.

Der Pfleger Apo kümmert sich um einen Querschnittgelähmten. Foto: Sonja Hamad

Medizinische Geräte. Foto: Sonja Hamad

Nach unserem angeregten Gespräch auf dem Marktplatz stehen die Fotografin und ich nun etwas verloren in dem halbdunklen Wohnzimmer. Sonja macht Fotos, ich unterhalte mich mit der Frau des Patienten. Apo betreue ihren Mann bereits seit zehn Jahren, erzählt sie. Die ehemalige Grundschullehrerin nickt freundlich in seine Richtung: „Das macht er gut“, sagt sie und fügt etwas strenger hinzu: „Nebenbei verbessere ich ab und zu sein Deutsch.“ Apo lacht und erzählt: „Eines Tages kam ich zu ihr und fragte: ‚Was bedeutet bloß das Wort Beene, ich kann es in meinem Wörterbuch nicht finden, und meine Kolleg*innen benutzen es dauernd.“ Sie erklärte ihm, dass das Wort im Berliner Dialekt „Beine“ heiße. Vor einiger Zeit hat sie mit ihrem Mann goldene Hochzeit gefeiert – „mit einer Band und viel Besuch“, erzählt die Achtzigjährige. Einer der Pfleger ist auch bei solchen Anlässen immer dabei: „Wir dürfen ihn nie alleine lassen“, sagt Apo. Während wir uns unterhalten, kontrolliert er Schläuche und Geräte, massiert die Hände des Patienten, erzählt ihm, wer sein Besuch ist. Dann streicht er ihm eine Strähne aus dem Gesicht und sagt: „Ich mag das überhaupt nicht, wenn die Haare unordentlich sind.“ Es ist eine intime und zugleich sehr bewusste Geste. Sprache, denke ich, wird da, wo Worte nicht mehr möglich sind, zum Handeln. Und diese Sprache spricht Apo besonders gut.

Porträt des Pflegers Apo. Foto: Sonja Hamad

Wie wird aus Unbekanntem Vertrautes? Diese Frage stellt sich WIR MACHEN DAS seit Jahren in einer Gesprächsreihe über Berufe – bei Meet Your Neighbours. Mit Corona ist das direkte Gespräch vorerst nicht mehr möglich. Deshalb stellen wir  im Magazin Menschen vor, die aus migrantischer Perspektive von ihrer Arbeit erzählen. Hier finden Sie alle Beiträge der Serie.

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