„Wie fühlt sich die Hitze in Deutschland für dich an – denkst du an die Türkei, wenn du hier in der Sonne liegst?“ Fragen wie diese hat die Schriftstellerin Dilek Güngör ihrem Vater bislang nie gestellt. Über die Sprachlosigkeit zwischen ihnen beiden schreibt sie für WIR MACHEN DAS.
Von Dilek Güngör, 06.08.2019Mein Vater kann sehr gut im Sitzen schlafen. Ihn stört es nicht, wenn sein Kopf dabei nach hinten kippt und bei jedem Atemzug sachte auf und ab wippt. Sein Mund öffnet sich dann, und er fängt an zu schnarchen. Es ist ein grässlicher Anblick, und nie schaffe ich es, ihm ein Kissen oder ein zusammengerolltes Handtuch in den Nacken zu legen, ohne ihn dabei zu wecken. Er soll nicht ohne Kissen schlafen, ich will nicht, dass er sich den Hals bricht. Sobald ich mit der Handtuchrolle neben ihm stehe, öffnet er die Augen, ich habe ihn nicht einmal berührt, allein meine Nähe hat ihn geweckt. Mit der Hand tastet er nach seinem Sonnenhut. Ein matschgraues Ding, das ihm meine Mutter vom Einkaufen mitgebracht hat. Er trägt den Hut, weil sie ihn dazu zwingt, er soll keinen Hautkrebs auf seiner Glatze kriegen. „Ich bin dann diejenige, die dauernd mit ihm ins Krankenhaus muss“, sagt sie.
„Hier ist es doch viel zu heiß“, sage ich, die Handtuchrolle in der Hand. Ich halte sie ihm hin, obwohl er sie nicht mehr braucht, er ist ja schon wach und hält seinen Kopf schön hoch. Ins Haus gehen wird er nicht, ich kenne ihn. Geh doch rein und schlafe dort. Wir lassen die Terrassentür offen, dann weht der Wind herein, das ist schön. Viel schöner als hier. Ich denke mir das nur. Solche Sätze sage ich nicht zu ihm, Sätze mit „du“ und „schön“. Sie sind mir unangenehm. Man kommt einander mit solchen Wörtern nah. Wir aber sprechen mit Abstand, so, dass wir uns mit Wörtern nicht berühren müssen. „Es ist nicht heiß. Mir ist gerade erst warm geworden.“
Mein Vater braucht 39 Grad und pralle Sonne, um sich ein wenig aufzuwärmen. Er rutscht tiefer in seinem Stuhl, legt sich den Hut aufs Gesicht. Ich setze mich in den Schatten des Sonnenschirms, die Handtuchrolle im Schoß. Mir ist heiß, aber ich will bei ihm sitzen. Ein weißer Golf rollt in die Einfahrt des Nachbarn. Türenschlagen. Ich sehe nicht hinüber.
„Mannomann“, ruft es aus der Einfahrt. Der Nachbar. Jetzt drehe ich mich doch kurz zu ihm. Er hat ebenfalls einen Hut auf, dunkelblau mit Schirm. Er lädt eine Kiste in seinen Kofferraum. „Ihr könnt diese Hitze ja ab. Aber unsereins geht dabei fast drauf.“ Ich erwidere nichts darauf, auch mein Vater sagt nichts. Mein Vater hat noch nie irgendetwas durch den Garten gerufen. Er tut so, als schlafe er. Ich tue so, als lächelte ich. Warum nur?
„Soll noch bis zum Wochenende so heiß bleiben. Das ist doch nicht normal.“ Der Nachbar ruft seine Sätze in seinen Kofferraum. Ich blicke auf meinen Vater, sein Kopf liegt jetzt auf der Rückenlehne. Unsereins und Euereins. Früher dachte ich, meine Eltern verstünden solche Sachen nicht. Ich war froh, dass sie es nicht verstanden. Ich weiß nicht, ob mein Vater das Gerede inzwischen versteht. Ich habe ihn nie gefragt. Über so etwas sprechen wir nicht.
Wir sprechen auch nicht darüber, ob es wahr ist, ob er Hitze wirklich abkann. Ob er wirklich so viel Hitze braucht. Ob ihn die Hitze an seine Kindheit in der Türkei erinnert. Ob ihm kalt ist ohne Hitze, ob er einsam ist, ob er sich nach etwas sehnt, nicht nur nach nackter Hitze, nach Wärme und nach Nähe, denn Nähe erzeugt ja Wärme. Haben die Erwachsenen nicht immer gesagt, in Deutschland sei es kalt? Die Deutschen seien kalt? War ihnen nicht immer kalt? Wie oft habe ich das als Kind gehört und daraus geschlossen, dass kaltes Wetter die Menschen kalt macht. Und dass zwangsläufig dort, wo meine Eltern herkommen, niemand und niemandem kalt ist. Nicht einmal im Winter.
Jetzt könnte ich ihn fragen. Und er könnte mir antworten, einfach in seinen Hut hinein sprechen. Wir könnten miteinander sprechen, ohne einander anzusehen, ohne uns zu nahe zu kommen, weder mit Blicken noch mit Worten. Das wäre mal ein Anfang, statt immer nur zu schweigen, wie sonst, wenn wir nie wissen, was wir zueinander sagen sollen.
Es sind bloß Worte, frag ihn, sage ich mir. Fang einfach an. Du hast das Fragenstellen doch gelernt als Journalistin. Offene Fragen, geschlossene Fragen, Suggestivfragen. Es ist ganz einfach. Ich müsste nur Luft holen und dann sagen: „Denkst du oft an die Türkei?“ Dann warten. Denkst du bei Hitze überhaupt an die Türkei? Oder an deine Kindheit? Woran denkst du, wenn du hier in der Sonne liegst? Denkst du an unsereins?
Warum frage ich nicht? Warum reden wir nicht? Wann haben wir aufgehört zu reden?
Wir haben doch miteinander geredet, als ich klein war. Noch mehr haben wir gespielt und gelacht und Blödsinn gemacht, ganz ohne Worte. Aber auch gesprochen, doch, das haben wir. Türkisch, wir haben immer Türkisch gesprochen. Bis zu dem Moment, an dem es schwierig für mich wurde, weil mir die türkischen Wörter ausgingen und immer mehr deutsche hinzukamen. Nicht nur als deutsche Varianten von Wörtern, die ich schon kannte. Neue Wörter, für neue Dinge. Wörter wie Schullandheim, Referat, Gottesdienst, Praktikum und Monatskarte. Verknallt sein und mit jemandem gehen, die Tage kriegen.
Wie reden, wenn einem die Wörter fehlen? Mit Wörterbuch? Türkische Sätze mit deutschen Einsprengseln? Das hätten wir tun können, weiterreden, es zumindest versuchen. Wollten wir es nicht versuchen? Wollte ich dir nichts mehr erzählen? Oder wolltest du nichts mehr hören? Und jetzt schiebe ich es auf den Wortschatz. Ich habe Englisch gelernt, dann Französisch und Spanisch und sogar ein Semester Japanisch, vom dem mir nicht mehr geblieben ist als ohayo gozaimasu, guten Tag. Ich hätte deine Sprache lernen können. Und du meine. Haben wir nicht. Wir haben geschwiegen und uns wortlos weiter liebgehabt.
„Unsereins kann die Hitze doch nicht ab“, sagt mein Vater und richtet sich plötzlich auf, faltet den Hut zusammen und geht ins Haus.