Foto: Hossam el-Hamalawy /Flickr(M)
Tahirs Square am 29.Januar 2011
Foto: Hossam el-Hamalawy /Flickr(M) Tahirs Square am 29.Januar 2011

Diverses Denken im politischen Widerstand

Vor acht Jahren hat Caroline Assad die ägyptische Revolution miterlebt. Heute erinnert sie sich daran, was ihr damals fehlte – die Bereitschaft, eine neue Gesellschaftsordnung wirklich gemeinsam zu entwerfen.

Von Caroline Assad, 04.04.2019

Es war ein großer Moment des Erwachens. Weder verstand noch wusste ich, wie der Aufstand genau entstanden war und wo die wütenden Massen herkamen, die unsere Machthaber mit immer lauter werdenden Sprechchören zum Rücktritt aufforderten. Doch auf einmal war sie eben da: die ägyptische Revolution – oder das, was als arabischer Frühling bekannt werden sollte. Ich war 18 Monate zuvor nach Deutschland gezogen, um zu studieren, ich blieb um zu arbeiten, und verliebt hatte ich mich auch. Ende 2010 merkte ich dann, dass sich in Ägypten Widerstand regte. Und aus der Ferne hatte ich das starke Gefühl, etwas ungemein Wichtiges zu verpassen – die Chance, etwas zu bewegen, Teil von etwas zu sein, das wichtig und groß war.

Also kehrte ich zurück. Meine Zeit in Ägypten verlief ohne größere Zwischenfälle, und zum Glück passierte mir nichts. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen wurde ich nicht bei einer Demo verletzt oder von der Polizei festgehalten. In der Menge unterwegs zu sein fühlte sich gut an, euphorisierend. Doch es war ein flüchtiges Gefühl.

Was mir in der Zeit am meisten zu schaffen machte, war, wie die ägyptische Polizei und das Militär Frauen behandelten. Sexualisierte Gewalt wurde aktiv als Terrorinstrument eingesetzt, um Frauen davon abzuhalten, aufzubegehren. Das Bild einer Frau, der Militärs auf offener Straße die Kleider vom Leib rissen und sie zusammenschlugen, bescherte mir wochenlang Albträume und ließ mich Jahre danach nicht los. Verhaftete Demonstrantinnen wurden Jungfräulichkeitstests unterzogen – ein demütigender, schmerzhafter und furchtbarer Prozess. Selbst Vergewaltigungen durch die Polizei waren keine Seltenheit.

In meiner Familie gab es keine einheitliche Meinung über die Revolution. Mein Bruder hatte plötzlich angefangen, sich alte Auftritte der ehemaligen ägyptischen Präsidenten anzusehen. Damals zirkulierten Reden von Abdel Nasser und Al Sadat in den sozialen Medien, meist gaben sie sich darin mutig, kompromisslos und lautstark gegenüber dem Westen. Die Aufnahmen sollten vermitteln, dass die Ägypter in der Vergangenheit Würde besessen hatten, die ihnen nun abhanden gekommen war – weil unser aktueller Präsident korrupt und faul war und sich einen Dreck um uns scherte. All dies sollte bei der Jugend Empörung hervorrufen, sie dazu bringen, auf die Straße zu gehen, ihn zum Rücktritt aufzurufen. Und es funktionierte. Jedenfalls bei meinem Bruder, mir und vielen anderen. Wir waren empört und wollten, dass er ging. Aber wir machten uns kaum Gedanken über Alternativen, und wir begriffen nicht wirklich, dass Korruption, soziale Ungleichheit und Autoritarismus fest verankert bleiben würden.

Meine Mutter war für die Revolution. Mein Vater war es nicht. Er hatte Angst, dass die Muslimbruderschaft die Kontrolle übernehmen würde. „Sie werden uns Christen zwingen, für den Aufenthalt in unserem Heimatland zu bezahlen“, sagte er. Oder, an dramatischeren Tagen: „Sie werden uns alle töten“. Er fand, es lohne sich eher, den Preis für eine mehr oder weniger säkulare Regierung zu zahlen, die die Tötung der christlichen Minderheit weder legalisierte noch institutionalisierte. Selbst wenn er damit ein Leben ohne sichere Arbeitsplätze und den Status Quo an Diskriminierung und Aggression hinnahm: hier und da ein Terrorangriff, eine Familie, die irgendwo in Oberägypten vertrieben, oder eine Kirche, die ohne triftigen Grund geschlossen wurde. Im staatlichen Fernsehen und einem großen Teil der Bevölkerung immerhin wurden Toleranz und Frieden zwischen den Religionsgemeinschaften gepredigt.

Letztendlich ergriff die Muslimbruderschaft tatsächlich die Macht. Und auch wenn ägyptische Christen noch keine Steuern dafür zahlen mussten, um in ihrem Land leben zu dürfen, vollzog sich doch ein drastischer Wandel hin zu einer religiösen – oder scheinbar religiösen – Ausrichtung. Säkulare Amtsträger in Verwaltung, Kultur und Politik wurden aus ihren Machtpositionen entlassen und durch Mitglieder der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei ersetzt. Unterm Strich stellte das neue Regime jedoch eher einen Angriff auf das säkulare kulturelle Erbe Ägyptens dar, denn auf eine bestimmte Gruppe. Anders formuliert: Die neue Regierung war nicht krimineller oder diskriminierender gegenüber den verschiedenen Minderheiten, als es das ägyptische Militärregime schon immer gewesen war.

Doch dann, nach einer zweiten Revolutionswelle, kam Abdel Fattah al-Sisi an die Macht. Und mit dem Wort ‚entsetzlich‘ lässt sich die Dimension dessen, was darauf folgte, nur unzureichend beschreiben. Al-Sisi war für die berüchtigten Jungfräulichkeitstests während der ersten Revolution verantwortlich gewesen. Die Verstöße gegen die Menschenrechte, das harte Vorgehen gegen die LGBTI-Community sowie der soziale Abstieg der mittleren und unteren Schichten, die nun mit seiner Machtübernahme einsetzten, waren furchtbar. Unter seinem Regime erreichte die Gewalt gegen Frauen und Minderheiten wie ägyptische Christen einen Höchststand. Ich erinnere mich daran, dass 2016 eine 70-jährige Christin in Almenia ihrer Kleider beraubt, geschlagen und durch die Straßen geschleift wurde – ohne dass der dafür verantwortliche Mob gerichtlich verfolgt wurde.

In einem Land, wo religiöse Minderheiten aus ländlichen Gebieten und Kinder aus niedrigeren sozioökonomischen Schichten als die Ärmsten gelten, sind Frauen die Ärmsten der Armen. Die Revolution hat daran weder etwas geändert noch war es ein bewusstes Ziel des Aufstands. So ehrenwert und bedeutsam diese Revolution auch gewesen sein mag, Frauenrechte gehörten niemals zu ihren Prioritäten. Man ging prinzipiell davon aus, dass sie in den allgemeinen Forderungen nach Brot, Freiheit und sozialer Gleichstellung enthalten wären. Denn vor allem sollte es darum gehen, die Linke zu vereinen und nicht über individuelle Forderungen und Rechte zu diskutieren. Und was die ägyptische Revolution tatsächlich erreicht hatte, war eine enorme Veränderung im kollektiven Bewusstsein über das, was gesellschaftlich möglich ist – beispielsweise die Absetzung eines Präsidenten. Dadurch richtete sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf Themen wie soziale Gleichstellung, den gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen oder Meinungsfreiheit. Und doch sind eben gerade die Themen, die unbeachtet blieben, entscheidend für das soziale Gefüge.

Es ist sicherlich vernünftig, auf ein politisches Ziel hinzuarbeiten und deshalb einen bestimmten Aspekt eines vielschichtigen Forderungskatalogs in den Vordergrund zu stellen. Doch während des gesamten Prozesses unsichtbar zu bleiben, ist nicht hinnehmbar und auf jeden Fall kontraproduktiv. Im globalen Kampf zwischen den politischen Spektren fällt die Antwort auf die Frage nach dem scheinbaren Scheitern der Linken und einem stärker werdenden Autoritarismus oft folgendermaßen aus: „Weil die Linke eben zersplittert ist.“ Weil sie von Identitätspolitik geplagt und daher nicht vereint ist, nicht in der Lage, sich um die größeren soziökonomischen Fragen zu kümmern. Diese Kritik gab es selbst an den #Unteilbar-Demonstrationen in Deutschland.

Mir scheint eher, als gingen die Rechte von Frauen und marginalisierten Gruppen allzu leicht unter, wenn wir auf etwas „Größeres“ fokussiert sind. Ein Beispiel sind die Belange von Women of Color innerhalb größerer feministischer Gruppierungen. Denn wie oft passiert es, dass entweder ein Mann, oder zumindest eine weiße Frau das Mikro ergreift und die Sache an sich reißt. Diese Dynamik innerhalb der Linken scheint universell zu sein. Aber ich glaube nicht, dass es demokratischen Bewegungen irgendwo auf der Welt dient, plurale Identitäten und Heterogenität auszuklammern. Feministische und Minderheiten-Perspektiven in politischen Bewegungen – im Kampf gegen Autoritarismus und Faschismus – sind in Europa ebenso wichtig wie im Nahen Osten. Sie sind weder Luxus noch Privileg, sondern schlicht eine Notwendigkeit.

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