Rückblick: Demokratie als Dialog

Wie steht es um die Demokratie in Deutschland? In welcher Verfassung ist sie? Kann sie angemessen mit neuen Herausforderungen umgehen? Nicht erst seit Covid-19 werden diese Fragen heiß diskutiert. Schon lange gibt es Ansätze, das demokratische Repertoire weiterzuentwickeln und auszubauen. Darüber diskutierte WIR MACHEN DAS bei der Tagung „Demokratie als Dialog“ mit Gästen aus Wissenschaft und Praxis.

Von Konrad Sziedat, 14.05.2021
© Miriam Barton/ Visual Thinking

Demokratie lässt sich unterschiedlich verstehen, etwa als Staatsform, als Gesellschaftsform, als Wettbewerb oder als Modus des Interessenausgleichs. Im Zeichen von Hass und Hetze, gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und wachsenden Disparitäten gewinnt ein weiterer Aspekt an Aufmerksamkeit: die Rolle des demokratischen Dialogs. Darum drehte sich die digitale Abschlusstagung des Projekts Demokratie? Eine Frage der Verfassung! am 29. April 2021.

Über „bürger*innennahe Politik“ diskutierten Jennifer Rübel von ifok, Frank Wend von der Sächsischen Staatskanzlei und der Sozialökonom Heinz Blome. Sahand Shahgholi von der Partizipationsplattform Zebralog moderierte. Über „Formen und Erfahrungen zivilgesellschaftlicher Gesprächs- und Begegnungsformate“ unterhielten sich die Politikwissenschaftlerin Aylin Karadeniz, die Kommunikationsexpertin Dr. Anneli Starzinger und Sarah Wohlfeld von der Initiative „more in common“. Die Moderation lag bei Caroline Assad, Geschäftsführerin von WIR MACHEN DAS. Die Soziologin Prof. Dr. Teresa Koloma Beck, Peggy Piesche von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Historiker Prof. Dr. Till van Rahden erörterten, wie Demokratie erfahrbar wird. Dieses Gespräch moderierte die Historikerin Dr. Claudia Gatzka. Und am Abend trafen Stephan Detjen, Chefkorrespondent des Deutschlandradios, Jana Michael vom Verein Tutmonde, der Künstlerin Elske Rosenfeld und Rouzbeh Taheri, Sprecher der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“  aufeinander. In einem von der Historikerin Prof. Dr. Christina Morina geleiteten Gespräch diskutierten sie darüber, wie demokratische Verständigung überhaupt gelingen kann. Die Visualisierungen der Zeichnerin Miriam Barton boten eine zusätzliche Ebene, um den verschiedenen Positionen und Argumentationsrichtungen zu folgen.

Die Tagung brachte eine beeindruckende Vielfalt von Personen, Institutionen und Perspektiven zusammen. Öffentliche Einrichtungen waren genauso vertreten wie nichtstaatliche Organisationen. Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen kamen zusammen, mit und ohne Migrationsgeschichte, aus Ost und West. So entstand ein breites Panorama und der Eindruck: Den Dialog zu suchen, hat Konjunktur – bei Vereinen, Kommunen, Behörden und Ministerien, in der politischen Bildungsarbeit. Gibt es einen gemeinsamen Nenner? Oder doch sehr unterschiedliche Motive und Praktiken? Und wie verhalten sich neue zu vorhandenen Beteiligungsformen? In vielem herrschte unter den Teilnehmenden schnell Einigkeit. Doch wurden auch Differenzen sichtbar, wenn sie auch teilweise unbenannt blieben.

Dies deutete sich schon am Vormittag an, der vornehmlich Praxiseinblicken galt. Drei Beispiele „bürger*innennaher Politik“ stellten sich im ersten Panel vor: Jennifer Rübel erläuterte, wie der erste Bürgerrat als Beratungsinstrument auf Bundesebene entstand, wie Bürgerräte inzwischen vom Bundestag beauftragt werden und wie sie sich auch unter Pandemiebedingungen rekrutieren, organisieren und in parlamentarische Beratungen einbringen. Aus der Landespolitik berichtete Frank Wend, wie sich die „Sachsengespräche“ der Regierung Kretschmer als Dialogformat aus der angespannten Stimmung 2017/18 entwickelten. Er sprach von einer großen Offenheit und einem hohen zivilisatorischen Niveau der Veranstaltungen, das jedoch in Onlineformaten leider verloren gehe. Heinz Blome berichtete über den Bürgerdialog der lippischen Gemeinde Horn-Bad Meinburg. Dort kamen nach einer turbulenten Ratssitzung unterschiedlich große Arbeitsgruppen von Bürger*innen zusammen, um etwa Abfallprobleme zu diskutieren – ein Modell, das nun ausgeweitet werden soll.

Die Distanz zwischen Bürger*innen und politischen Institutionen zu verringern, war als geteiltes Anliegen der drei Praxisbeispiele klar erkennbar. Eine weitere Gemeinsamkeit: gesellschaftliche Konfliktlagen gaben den Anstoß – und neue Irritationen entstanden, wenn von etablierten Verfahrenswegen abgewichen wurde, ob nun bei der Kreisverwaltung oder auch in der Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag. Weniger zur Sprache kamen die Unterschiede der Projekte. Dabei liegen zwischen repräsentativ ausgelosten Bürgerräten und offen zugänglichen Gesprächsformaten, die jedoch vornehmlich Menschen ab fünfzig Jahren anlocken, Welten. Weitgehend offen blieb zudem die Frage, wie die Ergebnisse der jeweiligen Gesprächsprozesse in politische Entscheidungen einfließen.

© Miriam Barton/ Visual Thinking

Ebenfalls breit angelegt war das zweite Vormittagspanel, das „zivilgesellschaftliche Dialog- und Begegnungsformate“ in den Blick nahm. Konzepte für eine migrantisch geprägte Stadtgesellschaft standen hier neben Gesprächsangeboten für den ländlichen Raum. Hinzu trat der analytische Blick auf gesellschaftliche Bruchlinien und Zielgruppen. Aylin Karadeniz stellte die Projekte „Die neuen Zeitzeugen“, „Erzählt und zugehört“ und „Meet Your Neighbours“ vor. Sie betonte insbesondere, wie wichtig eine ressourcenorientierte Herangehensweise sei. Anneli Starzinger gab Einblicke in die Förderpraxis bei „Miteinander reden“, einem 2018 gestarteten Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung, das nun in die zweite Ausschreibungsrunde geht. Sie verwies auf die Bedeutung von Kompetenzentwicklung sowie Prozessbegleitung und -beratung etwa durch Coaching, Supervision und Mediation.

Sarah Wohlfeld präsentierte die Befunde der Studie „Die andere deutsche Teilung“, die die Befragten nach Werthaltungen statt nach sozialstatistischen Parametern kategorisiert. Sie konstatierte eine Dreiteilung der Gesellschaft, der zufolge gerade das nicht involvierte Drittel der „Pragmatischen“ und „Enttäuschten“ Aufmerksamkeit verdiene. Verbindendes Anliegen aller drei Beiträge: Menschen in den gesellschaftlichen Dialog einzubeziehen, die sich von sich aus nicht beteiligen wollen oder können. Wie das geht? Insbesondere eine Haltung und Rahmung, die Wertschätzung, Neugier und Lernwilligkeit befördert, schälte sich als Gelingensbedingung heraus. Aber auch, rote Linien zu ziehen und zu verteidigen, gehört dazu. Denn wo Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit nicht anerkannt werden, ist Dialog unmöglich. Deutlich wurde zudem, wie wichtig sichere, angstfreie Räume sind. Die Menschen dort anzusprechen, wo sie sich wohlfühlen, sei ein guter Weg. Gerade die, die sich nicht beteiligen, hätten oft Angst vor neuen Begegnungen.

© Miriam Barton/ Visual Thinking

Das Nachmittagspanel ging das Tagungsthema auf reflexiver Ebene an. Aus politischer Bildung, Soziologie und Geschichtswissenschaft stammten die Beiträge. Dass Demokratie eine Gesellschaftsform sei, die ihrerseits plurale Lebensformen ermöglichen müsse, schien in der Runde Konsens zu sein. Gerade die gemeinsame Erfahrung von Unterschiedlichkeit mache Demokratie schließlich aus. Jedoch differierten die Einschätzungen darüber, welche Voraussetzungen es hierfür noch stärker braucht. Peggy Piesche plädierte aus rassismuskritischer Sicht dafür, die Anerkennung und Einbeziehung aller Teile der Gesellschaft auch in der Sprache zu verwirklichen. Auch rief sie dazu auf, überkommene Erzählungen vom demokratischen „Wir“ neu auszuhandeln. Teresa Koloma Beck verwies darauf, dass jedes Wir auch Ausschlüsse bedeute. Zugleich warnte sie davor, im Alltag bestimmte Bevölkerungsgruppen pauschal als Gefahrenquellen wahrzunehmen, wie es im Zuge dessen, was Forscher*innen Versicherheitlichung nennen, geschehe. Dadurch entwickelten sich öffentliche Räume zu Räumen der Gefahr. Ein Rückzug ins Private jedoch bedrohe die Demokratie ebenso wie antidemokratische Kräfte.

Till van Rahden sprach über das Verhältnis von Demokratie und Gesellschaft in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Für die Auffassung, Demokratie sei mehr als eine Herrschaftsform, zitierte er prominente Gewährsleute gerade auch aus der Frühphase der Bundesrepublik. Hierbei betonte er unter anderem die Bedeutung der Remigration. In der Diskussion sprach er sich insbesondere für die Pflege demokratischer Gemeingüter aus, damit schon vor Eintritt in die politische Auseinandersetzung Freiheit und Gleichheit erfahrbar würden.

Das abschließende Abendpodium brachte aktivistische, journalistische, künstlerische und psychologische Perspektiven zusammen. Die Teilnehmenden diskutierten darüber, wie demokratische Verständigung gelingen kann. Jana Michael vom Stralsunder Verein Tutmonde schilderte, wie unsichtbar und wenig repräsentiert „Menschen mit Migrationshintergrund“ in Mecklenburg-Vorpommern nach wie vor seien. Sie verwies insbesondere auf die psychischen Folgen für die Betroffenen. Stephan Detjen erklärte am Beispiel des Deutschlandradios, wie die Rundfunkräte Repräsentation im Sinne von Binnenpluralität institutionalisieren. Zugleich verdeutlichte er, wo solche Mechanismen angesichts wachsender gesellschaftlicher Vielfalt inzwischen an ihre Grenzen kommen. Elske Rosenfeld berichtete von ihrer künstlerischen Arbeit zum Verfassungsentwurf des Runden Tischs, der im Umbruch 1989/90 aus ihrer Sicht allzu schnell beiseitegelegt wurde. Sie würdigte aber, dass Volksentscheide in die Verfassungen aller ostdeutschen Bundesländer aufgenommen wurden. Als letzter beschrieb Rouzbeh Taheri vom Standpunkt des Aktivisten, wie in Berlin die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Stadt mobilisiere. Er betonte, dass hierdurch viele neue Gespräche und Gemeinsamkeiten entstünden. Inwiefern Anliegen und Tätigkeit der Kampagne insgesamt unter Dialog fällt statt etwa unter Polarisierung oder Konfrontation, blieb allerdings undiskutiert.

© Miriam Barton/ Visual Thinking

Durch alle Blöcke zog sich das titelgebende Thema Dialog zumeist eher implizit. Begriffliche Schärfungen und systematische Verknüpfungen der Beispiele konnten in der Regel nur angedeutet werden. Zu vielfältig waren die Ebenen, auf denen Dialog angesprochen war: als Kommunikation zwischen Bürger*innen und verfasster Politik, als direkter Austausch der Bürger*innen untereinander, als Empowerment und Einbindung marginalisierter Gruppen, als Haltung in medial vermittelten Diskursen und im Gebrauch sozialer Medien. Doch wurde durchgehend deutlich, wie wichtig das Grundprinzip, sich aufeinander einzulassen, statt sich einen bloßen Schlagabtausch zu liefen, einerseits ist – und wie schnell es andererseits an Grenzen stoßen kann. Mehrfach lautete entsprechend das explizite oder implizite Plädoyer, Dialog nicht allein auf der Ergebnisebene, sondern zugleich auch als Wert an sich zu betrachten. Exemplarisch unterstrich dies der Befund, dass im Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ auch jene, die mit dem Schlussvotum nicht einverstanden waren, sich zu neunzig Prozent zufrieden mit dem Prozess zeigten.

Instruktiv dürfte daneben etwa eine dezidiertere Einbeziehung (zeit-)historischer Perspektiven sein. Sie wurden angedeutet, kamen aber insgesamt recht kurz, wie auch Mitinitiatorin Christina Morina konstatierte. So mag der Blick auf Dialog als eines der Schlagworte des Umbruchs 1989/90 dessen demokratisches und transitorisches Potenzial ebenso illustrieren wie das Erfordernis (aber auch die Schwierigkeit), ihn mit weiteren Beteiligungsformen zu verschränken, vom Straßenprotest bis hin zu freien Wahlen. Zudem wirft der DDR-Fall die Frage auf, wer überhaupt legitimer Dialogpartner sein kann – oder notgedrungen als situatives Gegenüber zu akzeptieren ist. Auch ist das mehrfach angesprochene Problem demokratischer Wir-Erzählungen mit davon abhängig, wie eine pluralisierte Gesellschaft an demokratische Aufbrüche, ob von 1919, 1949 oder 1989, erinnert.

Ist Dialog nun mehr als eine allseits gefällige, aber gerade darum weitgehend leere Formel? Mit Blick auf die Vielfalt der praktischen Projekte und theoretischen Begründungen, die der Tagungstag zusammenband, spricht manches dafür, manches dagegen. Da waren einerseits weithin geteilte Prämissen und Parallelen in den Erfahrungen. Dass Dialog Begegnung und Perspektivwechsel ermöglicht und damit soziale Kohäsion fördern kann, wurde ebenso deutlich wie der Beitrag, den er zu politischen Meinungsbildungsprozessen leistet. Andererseits blieb bis zum Schluss unklar, ob und wie sich politische Entscheidungsverfahren – und Entscheidungen – hierdurch tatsächlich verändern können und sollen. Insofern dürfte die Veranstaltung die aktuelle Situation gut eingefangen haben: Der vielstimmigen Forderung, dass es Dialog mehr denn je braucht, entspricht eine Vielfalt an Intentionen, Vorstellungen und Praktiken, die dahinterstehen. Ob dies selbst schon ein gutes Zeichen für die Dialogfähigkeit der Gesellschaft ist, steht dahin. Eine Tagung, die zunächst einmal erfolgreiche Beispiele und bedenkenswerte Argumente dialogisierte, konnte und wollte diese Frage nicht klären, führte ihre Brisanz aber umso deutlicher vor Augen.

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