Anspruch auf Repräsentation: Frauen erkämpfen vor 100 Jahren ihr Wahlrecht in den USA.
©Harris & Ewing Collection / Librairy of Congress
Anspruch auf Repräsentation: Frauen erkämpfen vor 100 Jahren ihr Wahlrecht in den USA. ©Harris & Ewing Collection / Librairy of Congress

Warum Wählen nicht alles ist

Das Wahlrecht zeigt an, wer zum politischen Gemeinwesen dazugehört. Doch inhaltlich mitgeredet wird an der Wahlurne nicht. Dafür braucht es direktere Kanäle – am besten zu den Abgeordneten.

Von Claudia Gatzka, 05.11.2020

Das Wahlrecht ist das grundlegendste Teilhaberecht in der parlamentarischen Demokratie. Doch Wählen ist nicht die einzige Möglichkeit, sich politisch zu engagieren – und das ist gut so. Denn ein beträchtlicher Teil der Menschen, die in der Bundesrepublik leben, ihren Regeln und Gesetzen unterworfen sind, dürfen nicht wählen. Das Wahlrecht ist nämlich an zwei Bedingungen gebunden: die Volljährigkeit und die Staatsbürgerschaft. Und selbst für jene, die wählen dürfen, stellt der Wahlakt eine zwar bedeutsame, aber vergleichsweise passive Form der Mitsprache dar.

Wählen ist in der Demokratie symbolisch wichtig, weil dadurch die Teilhabe an der politischen Gemeinschaft zum Ausdruck kommt. Es schließt ein und zugleich aus, indem es festlegt, wer vom Prinzip der Volkssouveränität Gebrauch machen darf und wer nicht. Es zeigt an, wer „dazugehört“. Die Kriterien dieser Zugehörigkeit jedoch sind veränderbar: In der Bundesrepublik wurde das Wahlalter 1970 schon einmal gesenkt, von 21 auf 18 Jahre – in der DDR durfte man bereits mit 18 wählen; das Kommunalwahlrecht wurde 1992 für EU-Ausländer geöffnet.

Auch derzeit gibt es keine formalen Gründe, am aktuellen Mindestwahlalter von 18 Jahren festzuhalten, und es gibt keine staatsrechtliche Notwendigkeit, das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft (anstatt an den Wohnort oder die Arbeitsstätte) zu binden. Und tatsächlich wird es problematisch, wenn die Relation zwischen Wohnbevölkerung und Wahlberechtigten in eine Schieflage gerät. Ob das demokratische Prinzip der Selbstbestimmung gewahrt ist, wenn in einzelnen migrantisch geprägten Gemeinden die Hälfte der Einwohner*innen nicht wählen darf, ist fraglich. Wenn der Wunsch nach Wahlrecht artikuliert wird, etwa in Wahlrechtsdemonstrationen, die es in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab, ist es für Staaten eigentlich immer opportun, dem nachzugeben. Denn mit dem Anspruch auf Repräsentation ist ja immer auch ein Bekenntnis zum politischen Gemeinwesen verknüpft, das Wertschätzung verdient.

Und doch ist Wählen nicht alles, wenn es um politische Mitbestimmung geht. In der parlamentarischen Demokratie geht es beim Wählen ohnehin vorrangig um Repräsentation: Per Wahl entscheiden die Wahlberechtigten, wer sie für eine absehbare Zeit im Kommunal-, Landes- oder Bundesparlament vertritt und dort in ihrem Namen abstimmt. Wählen ist also lediglich die Delegation von Mitbestimmung, aus dem Wahlakt leiten sich keine weiteren Rechte für die Wählenden ab. Ein Kreuz auf einem Stimmzettel sagt noch nichts über die Motive, Wünsche, Haltungen und Bedürfnisse der Wählenden aus. Ob Inhalte angesichts der seit Jahrzehnten anhaltenden Personalisierung von Politik bei der Wahlentscheidung überhaupt eine nennenswerte Rolle spielen, wird in der Wahlforschung schon lange angezweifelt.

Gerade politisch interessierte Wähler*innen und Menschen, die es werden wollen, haben klare Sachfragen vor Augen, über die sie durch Wahlen mitbestimmen wollen. Doch der Einfluss der Personalisierung von Politik zeigt sich heute unter anderem darin, dass junge Menschen ausgerechnet mit der Bundeskanzlerin über Themen wie die teuren Nahverkehrspreise diskutieren wollen. Die Bundeskanzlerin ist dafür aber gar nicht zuständig, und vor allem wird sie nicht vom Volk gewählt: Es sind Bundestagsabgeordnete, die in Deutschland gewählt werden, und diese bestimmen dann nach den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag die Regierungschefin oder den Regierungschef. Wie sehr junge Menschen heute an diesen Verhältnissen vorbei die Exekutive im Blick haben, zeigt sich auch bei Rezo. Er adressiert auf YouTube die große Politik, die Parteivorstände und das Bundeskanzleramt – nicht jedoch jene politischen Instanzen, über die er und andere Wähler*innen abstimmen könnten: Kommunal-, Landtags- und Bundestagsabgeordnete. An sie müssten wir uns wenden.

Wie kommt es, dass die wahren Repräsentant*innen bei ihren Wähler*innen, vor allem bei den jungen, so wenig bekannt sind? In den 1960er und 1970er Jahren war das noch anders. Damals bemühten sich die Wahlkreiskandidat*innen intensiv, auf Wahlveranstaltungen, in Kneipen, an Haustüren, auf der Straße und per Brief mit ihren Wähler*innen ins Gespräch zu kommen. Vor allem die Lokalpresse, damals noch das wichtigste Medium für die Wählenden, machte die Kandidat*innen bekannt. Das Internet und die sozialen Medien bieten heute theoretisch noch bessere Kommunikationsmöglichkeiten, und manche Abgeordneten nutzen Twitter auch schon intensiv, um sich ihren Wähler*innen mitzuteilen. Doch künftig müsste es auch darum gehen, die Menschen aus dem Wahlkreis selber sprechen zu lassen, ob mit oder ohne Wahlrecht: über ihre Wünsche und Sorgen, vor allem aber über ihre Einschätzungen zu den politischen Fragen, die im Bundestag behandelt werden.

Deutschland ist mit einer responsiven Demokratie aber wenig vertraut. Das Grundgesetz verpflichtet die Gewählten eben gerade nicht darauf, den Willen der Wähler*innen umzusetzen. Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen verpflichtet, sie sind nicht gebunden an inhaltliche Aufträge und unterliegen auch nicht irgendeiner Kontrolle. Faktisch jedoch binden sie sich längst, und zwar an die Direktiven ihrer Parteien. Faktisch unterliegen sie auch durchaus einer Kontrolle, und zwar durch die Parteibasis, die in ihrem Wahlkreis darüber entscheidet, ob sie eine*n Abgeordnete*n wieder als Kandidat*in aufstellt oder nicht.

Für Wähler*innen ohne Parteibuch sind solche Feedbackschleifen in der repräsentativen Demokratie nicht vorgesehen. Auch der Stimmzettel enthält keine Kommentarfunktion, durch die Wähler*innen mitteilen könnten, was sie an ihren Repräsentant*innen gut fanden und was schlecht. Es ist den Abgeordneten überlassen, außerparteiliches Feedback aus ihrem Wahlkreis einzuholen. Was Wahlberechtigte wie Nicht-Wahlberechtigte schon jetzt tun können, um mehr Mitsprache zu üben, ist, in eine Partei einzutreten. Gerade junge Menschen und Migrant*innen sollten darüber nachdenken, denn dort können sie politisch Einfluss nehmen, ohne über ein Wahlrecht zu verfügen – jedenfalls bei den meisten Parteien. Abgeordnete*r werden können sie über diesen Weg jedoch nicht. Denn um gewählt werden zu können, ist das passive Wahlrecht unabdingbar.

Weil unsere Demokratie auch den Wahlberechtigten bei der Mitsprache enge Grenzen setzt, sind alternative, zivilgesellschaftliche Partizipationsräume so wichtig. Hier können alle gemeinsam großen Einfluss entfalten: in außerparlamentarischen Bewegungen, Wähler- und Bürger*inneninitiativen, Vereinen und Verbänden, durch Demonstrationen und Aktionen, mittlerweile vor allem über YouTube oder Twitter. Bürgerbewegungen haben in der Geschichte der Bundesrepublik Großes bewegt, gerade auch, wenn es um Anti-Diskriminierung und Minderheitenrechte ging – etwa für Frauen oder für Homosexuelle. Über die sozialen Medien können Minderheiten oder stumme Wähler*innenmehrheiten heute ein viel größeres Publikum erreichen als vor der digitalen Transformation.

Unterm Strich sind die politischen Teilhabechancen über diese Kanäle wohl also tatsächlich noch bedeutsamer als das Kreuz im Wahllokal. Denn Politiker*innen orientieren sich zwar an der Maximierung von Wahlstimmen, können sich jedoch der öffentlichkeitswirksamen Artikulation des Volkswillens nicht entziehen. Und User*innen können sich heute außerparlamentarische Repräsentant*innen suchen, die qua Likes und Followers dieselbe Legitimität beanspruchen mögen wie gewählte Volksvertreter*innen. Vom Wahlrecht ausgenommen zu sein, bedeutet in der Demokratie also nicht mehr explizit, seiner Stimme beraubt zu sein. Und auch für Wahlberechtigte verheißen die neuen Medien eine Erweiterung ihrer Stimme über den reinen Wahlakt hinaus.

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