Wie wird aus Unbekanntem Vertrautes? Diese Frage stellt sich WIR MACHEN DAS seit Jahren in einer Gesprächsreihe über Berufe – bei Meet Your Neighbours. Mit Corona ist das direkte Gespräch vorerst nicht mehr möglich. Deshalb stellen wir in den nächsten Tagen im Magazin Menschen vor, die aus migrantischer Perspektive von ihrer Arbeit erzählen.
Von Elisabeth Wellershaus, 02.07.2020„Es ist also endlich geschehen. Das, wovor ihr euch am meisten gefürchtet habt, ist hier. Es ist aus dem Ausland gekommen, hat euch eure Jobs weggenommen, die Straßen unsicher gemacht …“ Mit diesen Sätzen beginnt ein Video aus Großbritannien, das Mitte April weltweit zum Klickhit wurde. Der Clip verweist auf Medienberichte, die in den vergangenen Jahren vor „Überfremdung“ und „Flüchtlingswellen“ warnten. Doch das Unheimliche, von dem hier die Rede ist, denkt nicht in Identitätskategorien. Denn es geht um Corona. „You clap for me now“ thematisiert die reflexhafte Ausgrenzung, die Menschen aus Einwandererfamilien noch immer in vielen europäischen Gesellschaften erfahren. Menschen, von denen derzeit viele die wichtigsten Infrastrukturen ihrer Städte und Bezirke mittragen. Die gesellschaftliche Wahrnehmung ihrer Berufe hat sich in den vergangenen Monaten verschoben: Die Protagonist*innen im Video etwa sind Zusteller*innen, Erzieher*innen, Reinigungskräfte, Lehrer*innen und Pfleger*innen. Sie haben unterschiedlichste Hautfarben, tragen Hijab oder Afro. Und sie bezeugen etwas, das viele westliche Nationen sich trotz Pandemie noch immer kaum eingestehen wollen: Sie sind längst auf die Arbeitskraft von Migrant*innen angewiesen.
Auch in Deutschland stellen Migrant*innen und deren Nachkommen etwa ein Viertel aller Beschäftigten in systemrelevanten Berufen. Eine Weile wurden sie auch hierzulande gefeiert. Weil sie sich in teils unterbezahlten und oftmals aufreibenden Berufen der Gefahr einer Ansteckung aussetzten. Ein Stück weit hat die gesellschaftliche Wahrnehmung sich also tatsächlich verändert. Doch es gibt viele Erfahrungen, von denen die meisten noch immer wenig wissen. Deshalb widmen wir uns in den kommenden Tagen systemrelevanten Berufen aus migrantischer Perspektive. In Geschichten, die von den Möglichkeiten einer inklusiven Gesellschaft erzählen.
In Zeiten der anhaltenden Kontaktlosigkeit verschärft sich die Abgrenzung leider schon aus gesundheitlichen Gründen. Deshalb haben wir nach Formaten und Möglichkeiten gesucht, um weiterhin im Austausch zu bleiben. Unsere Autor*innen und Journalist*innen haben vor allem in kleineren Städten und dem ländlichen Raum recherchiert. Dort, wo die Perspektiven von Migrant*innen noch verhaltener als in den Großstädten in die Gesellschaft hineinklingen. In Reportagen, Porträts und Interviews werfen sie in diesem neuen Meet Your Neighbours-Format einen Blick auf das Berufsleben unserer Protagonist*innen. Mit Eindrücken aus Greifswald, Wanne-Eickel, Stralsund und dem Landkreis Barnim.
Besonders aufschlussreich ist die derzeitige Situation von Schülerinnen und Schülern. Homeschooling hat Schwachpunkte des Schulsystems aufgezeigt, Bildungsungerechtigkeit offengelegt, manchen Kindern aber auch den Schutzraum geboten, der ihnen in der Schule fehlte. In einem Schwerpunkt zum Thema hat Uta Rüchel mit Lehrer*innen, Eltern, Kindern und einer Psychologin in Stralsund gesprochen. Während die Psychologin Einblicke in die prekäre Lernsituation in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete liefert, erzählen die Kinder russischer, tschechischer und syrischer Eltern, warum Homeschooling für sie nicht nur schlecht war. Doch auch die Anforderungen an die Kinder werden deutlich – etwa wenn neben fehlender Motivation die Sprachkenntnisse in der Familie fehlen, um die online gestellten Aufgaben zu verstehen. Engagement und Sensibilität auf Seiten von Lehrer*innen, Erzieher*innen und digitalen Nachhilfeeinrichtungen sind durch die aktuelle Situation nun noch wichtiger geworden als zuvor.
Auch der kurdischstämmige Pfleger Apo, der vor über zwanzig Jahren aus der Türkei nach Deutschland fliehen musste, zählt derzeit zu den Menschen mit systemrelevanten Berufen. Seit etwa zehn Jahren betreut er einen querschnittsgelähmten Patienten in einem kleinen Ort im Landkreis Barnim. Die Journalistin Cosima Grohmann und die Fotografin Sonja Hamad haben ihn besucht und erzählen in ihrem Porträt davon, wie er durch eine Entscheidung des Arbeitsamts zum Pflegeberuf kam – und warum er seine Arbeit heute gegen keine andere mehr eintauschen möchte.
Eine bewegte Berufsbiografie hat auch Diana Wucherer aus Kasachstan. Anfang der Nullerjahre kam sie als studierte Landschaftsökologin nach Deutschland. Doch mit ihrem Beruf hatte sie hier kaum Chancen. Schnell sattelte sie auf Pharmazie um, arbeitet heute als Apothekerin und unterstützt von Greifswald aus die Familie in der alten Heimat. Von ihrem Leben in Mecklenburg-Vorpommern und der Verbindung zu Kasachstan erzählen die Journalistin Stella Hombach und die Fotografin Ceren Saner.
Abschließen werden wir unsere Reihe mit einer Berufsgruppe, die offiziell nicht als systemrelevant gilt: mit Schriftsteller*innen. Denn wir sind fest davon überzeugt, dass Kunst und Kultur elementar sind für das gesellschaftliche Miteinander in Deutschland. Für die syrische Lyrikerin Lina Atfah und ihren Mann Osman Yousufi war der freie Raum der Literatur eine große Hilfe bei ihrer Ankunft in Deutschland. Im Interview erzählen sie von ihrer Arbeit, ihrem Verhältnis zur deutschen Sprache, der gegenwärtigen Isolation und davon, wie sie selbst Systemrelevanz definieren.
Wir wünschen Ihnen und uns, dass wir auch über die Distanz weiterhin im Gespräch bleiben.
Hier finden Sie alle Artikel. Viel Spaß beim Lesen!
Ihre Redaktion