Foto: Selbstporträt
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Gemeinsam heilen

WIR MACHEN DAS-Bildredakteurin Juliette Moarbes denkt über die Flucht ihrer Großeltern nach und stellt fest: Das Verdrängen erlebter Traumata ist aktuell noch immer ein Problem in Deutschland.

Von Juliette Moarbes, 28.11.2019

Ich finde keinen Einstieg zu unserem Monatsthema, Mental Health. Zu viele Erlebnisse aus den letzten Monaten geistern mir durch den Kopf, ich könnte über jedes einzelne schreiben. Da ist zum Beispiel der afrikanische Flüchtling in der Berliner S-Bahn, der mir unter Drogeneinfluss und mit Tränen in den Augen immer wieder „Fuck Lampedusa” entgegen schreit. Oder die schwer depressive syrische Mutter in der Schule meiner Kinder. All diese Menschen, die öffentlich nur in den Statistiken auftauchen. Aber ich will keine Statistiken aufführen und das Thema auch nicht wissenschaftlich aufbereiten.

Erst nach längerem Überlegen wird mir klar, dass ich einen viel näheren, ganz privaten Bezug zum Thema Flucht und seinen psychosozialen Belastungen habe.

Meine eigenen Großeltern mussten ihr Zuhause am Ende des zweiten Weltkrieges unter dramatischen Umständen verlassen. Und da ich größtenteils bei ihnen aufgewachsen bin, war das Thema Flucht eigentlich immer präsent.

Schweigen sich manche Menschen nach einem so traumatisierenden Erlebnis durchs Leben, wurde es bei uns ständig thematisiert. Auf sehr zurückgenommene, emotionslose Weise hat meine Großmutter immer wieder von ihrer Flucht erzählt. Davon, wie sie mit 23 Jahren, ein paar Tage nach der Geburt meiner Mutter, ihr Zuhause für immer verlassen musste. Davon, dass ihr das Blut unterwegs die Beine hinunterrann. Dass der Bruder meines Großvaters auf halbem Weg an Herzversagen starb.

Immer wieder erzählte sie ihre Geschichte, eigentlich kamen wir fast am Ende jeden Gesprächs auf das Thema Krieg und auf ihre Flucht vom damaligen Egerland im heutigen Tschechien nach Bayern. Jetzt erst wird mir klar, dass das ihr Weg war, um dieses Trauma, ihr Lebenstrauma, zu verarbeiten.

In der Psychologie weiß man heute, dass Trauma-Patient*innen erst durch das ständige Wiederholen ihrer Geschichte Besserung erlangen. Meist verläuft eine Heilung also eher in Spiralen als stringent. Und ich frage mich, welche Form der psychologischen Unterstützung wir Menschen bieten können, die heute auf tausende Kilometer langen Routen unter lebensgefährlichen Bedingungen zu uns kommen. Anstatt Neuangekommene hier nur zu tolerieren und sozusagen „aufzubewahren“, sollten wir beginnen, unsere neue Gesellschaft gemeinsam zu heilen.

Wir sollten Möglichkeiten anbieten in Form von Therapieplätzen, die bislang Mangelware in Deutschland sind – obwohl sie so dringend benötigt werden. Wir brauchen generell mehr Spezialist*innen, die auf Trauma-Patient*innen mit Fluchthintergrund ausgerichtet sind und im besten Fall auch mehrere Sprachen sprechen. Nach Angaben der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer haben Geflüchtete nach den ersten 15 Monaten Aufenthalt in Deutschland einen Anspruch auf medizinische Versorgung, die dem von gesetzlich Versicherten entspricht. Zuvor zahlt das Sozialamt.

Durch diese Regelung kann eine Psychotherapie nur von Therapeut*innen durchgeführt und abgerechnet werden, die eine Kassenzulassung haben. Leider gibt es aber davon zu wenige, wie auch deutsche Patient*innen zu spüren bekommen, die oft monatelang auf einen geeigneten Therapieplatz warten müssen. Seitdem 2015 die Zahlen geflüchteter Menschen in Deutschland gestiegen sind, wurde durch das sogenannte Asylpaket I im Oktober desselben Jahres zwar die Möglichkeit der Ermächtigung von Psychotherapeut*innen in der Zulassungsverordnung für Ärzt*innen erweitert. Diese Änderung ermöglicht aber bei weitem noch nicht die Schaffung der eigentlich benötigten Therapieplätze.

Auch nach dem zweiten Weltkrieg wurde die psychische Gesundheit der Bevölkerung vernachlässigt. Eine öffentliche Debatte über psychosoziale Folgen der damals traumatisierten Bevölkerung findet eigentlich erst seit Kurzem statt. Und welche Auswirkungen die unbehandelten posttraumatischen Belastungsstörungen unserer Großeltern auf die Folgegenerationen hatten oder haben, weiß wahrscheinlich jeder durch Erlebnisse im persönlichen Umfeld. Es hätte uns allen geholfen, wenn wir uns der seelischen Gesundheit der Betroffenen schon viel früher intensiv angenommen hätten.

Warum diesmal also nicht weitsichtiger sein?

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