Angesichts des politischen Geschehens einfach weitermachen wie bisher? Nein. Annika Reich über ihren Beitrag für eine solidarische Welt.
Von Annika Reich, 05.11.20182015, als zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt Tausende Menschen, die aus dem Krieg übers Mittelmeer geflohen waren, vor dem LAGeSo auf dem Boden lagen, weil die Politik beschlossen hatte, dass das so sein müsse, habe ich beschlossen, ein Jahr lang nicht an meinem neuen Roman zu schreiben, sondern mich diesen Menschen zu widmen. Also habe ich zusammen mit 100 Frauen aus einem Netzwerk, das die Malerin Katharina Grosse und ich schon Jahre vorher gegründet hatten und das solidarisch rockt und mein Leben versüßt wie kaum etwas anderes, WIR MACHEN DAS initiiert.
Aus dem Jahr sind inzwischen drei geworden. Ich habe immer noch nicht mit dem neuen Roman angefangen und ich weiß auch nicht, wann ich dafür wieder Raum und Zeit haben werde. Für einen Roman muss ich Zeit verschwenden können, ich muss stundenlang aus dem Fenster schauen und mit Sätzen, die Torhüter sind, tagelang verhandeln. Ich muss das Gefühl haben, von der Welt in Ruhe gelassen zu werden. Ich hatte bisher noch nicht einmal einen Hamster für die Kinder, weil ich immer dachte, ein Hamster wäre schon zu viel Welt, die ruft.
Jetzt leite ich zusammen mit einem Team WIR MACHEN DAS. Wir werden immer mehr. Ich habe ständig Meetings, ich moderiere Lesungen, treffe syrische, irakische, jemenitische und afghanische Schriftsteller*innen und Journalist*innen, die meine Perspektive auf die politische Situation und auf meine eigene Haltung nachhaltig verändert haben. Ich halte Reden, arbeite Protokolle ab, schreibe Stellen aus und führe Bewerbungsgespräche. Viele der Menschen, die ich über diese Arbeit kennenlernen darf, beeindrucken mich sehr. Ich lerne lauter Dinge, von denen ich vor zwei Jahren noch nicht den leisesten Schimmer hatte: Fundraising, Anträge, Teambuilding, Kostenfinanzpläne, Strategieentwicklung, Trello – lauter solche Sachen. Ich wollte das nicht. Ich wollte Bücher schreiben. Immer schon. Mein ganzes Leben lang nur das: Bücher schreiben.
Die radikale Abzweigung, die mein Leben genommen hat, hat mir lange Angst gemacht, aber irgendwann habe ich mich dem hingegeben und seither mag ich diesen Kontrollverlust sogar. Jetzt denke ich manchmal an diese Szene bei Matrix, in der Neo über seinen Anschluss im Nacken Trainingspläne geladen bekommt, von denen er noch nicht genau weiß, wofür er sie braucht. Ich habe das Gefühl, das Leben lädt mir Know-how, um das ich nicht gebeten hatte, und ich bin dankbar dafür. Ich erfahre erstmalig existenziell und nicht nur theoretisch, wie extrem politische Entscheidungen in das Leben eingreifen können, wie abhängig Menschen von Gesetzen und Entscheidungen sind, die in Ministerien, Stiftungen und Ämtern getroffen werden. Ich wusste das auch vorher, aber ich bin so privilegiert, dass es mir bisher nur nahegegangen, aber nicht nahegekommen ist. Jetzt höre ich ganz anders zu und versuche dabei, die blinden Flecken meiner Privilegiertheit immer weiter in den Blick zu bekommen, um genau zu verstehen, wie Solidarität gestaltet sein muss, um nicht Teil des Problems zu werden. Ich beginne jetzt auch noch die Verwaltung öffentlicher Gelder (Königsdisziplin!) zu verstehen und wer welche Gelder warum bekommt und was das bedeutet. Bei alldem vertraue ich darauf, dass ich das alles lernen soll, weil das Leben das so entschieden hat und weil ich entschieden habe, dass der nächste Roman warten kann. Die Welt da draußen ist für mich gerade nur deswegen überhaupt auszuhalten, weil ich etwas tun kann. Mein Teil, den ich für eine solidarische Welt leisten kann, ist klein, aber er bewirkt etwas.
Wenn ich gefragt werde, wie ich so optimistisch bleiben kann, dann ist meine Antwort immer: Optimismus ist die einzige Entscheidung in meinem Leben, die ich nicht in Zweifel ziehe. Ich brauche meinen Optimismus als Basis, von der ich ausgehe. Sie wackelt kein bisschen. Deswegen jetzt und in Zukunft: WIR MACHEN DAS!