Eine Woche Sprachbabel

Die Übersetzer*innen-Werkstatt „Poesie der Nachbarn – Dichter übersetzen Dichter“ fand dieses Jahr zum dreißigsten Mal statt, Gastland war Syrien.

Von Maritta Iseler, 14.09.2017
Im Künstlerhaus Edenkoben begegnen sich Dichter, Schriftsteller, Künstler, Musiker, Übersetzer, Leser und Kunstinteressierte. Foto: Maritta Iseler
Im Künstlerhaus Edenkoben begegnen sich Dichter, Schriftsteller, Künstler, Musiker, Übersetzer, Leser und Kunstinteressierte. Foto: Maritta Iseler

Es ist einer der jährlichen Höhepunkte des Künstlerhauses Edenkoben, das in pfälzischer Idylle mitten in den Weinbergen gelegen ist: Eine knappe Woche lang kommen hier jedes Jahr Anfang Juli sechs ausländische und sechs deutschsprachige Lyriker*innen zusammen.

Das Konzept: Die deutschen Dichter*innen übersetzen die Gedichte der internationalen Nachbarn. Dazu erhalten sie vor Beginn des Treffens Interlinear-Versionen – möglichst kunstlose, philologisch gearbeitete Wort-für-Wort-Übersetzungen. Die Texte werden als Skelett von einem Übersetzer, der mit der Literatur des jeweiligen Gastlandes sehr vertraut ist, geliefert; die Übertragungen oder (Nach-)Dichtungen entstehen dann bei der Begegnung in Edenkoben, im vielsprachigen Dialog miteinander Nachfragen in zurückgezogener Arbeit im weitläufigen, verwunschenen Garten – meist auch mit viel gutem Essen und reichlich vom lokalen Wein.

Zum 30-jährigen Jubiläum lud das Künstlerhaus Gäste aus Syrien ein. „Unsere syrischen Nachbarn sind paradoxerweise unsere nächsten Nachbarn, so kurz war die Anreise noch nie“, stellte Hans Thill, Leiter des Projektes fest. Fünf der sechs eingeladenen Lyriker*innen – Lina Atfah, Aref Hamza, Mohammad Al-Matroud, Rasha Omran, Lina Tibi und Raed Wahesh – wohnen mittlerweile in Deutschland. Die Themen ihrer eingereichten Gedichte sind vielfältig: die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die Rolle der Frau, Liebe, Kunst, Musik, aber auch Krieg oder Tod.

Die deutschen Übersetzer*innen wählen die Texte, die sie übersetzen möchten, selbst; deshalb gibt es nicht selten mehrere deutschsprachige Übertragungen. Für die syrischen Lyriker war dies eine außerordentliche Erfahrung: Einer der Texte von Rasha Omran wurde gleich dreifach für eine Übersetzung ins Deutsche ausgewählt, die unterschiedlichen Fassungen waren für die Autorin sehr faszinierend. Bei den öffentlichen Lesungen, die zum Programm gehören, wurde den begeisterten Anwesenden ein Gedicht von Lina Tibi in beiden Versionen vorgetragen – eines Mannes Abend, übersetzt von Jan Wagner / Abend eines Mannes übersetzt von Joachim Sartorius –, für alle ein spannender Einblick in die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten.

Hans Thill stellte die Teilnehmer auf der Matinee vor: auf der Bühne die Übersetzer (v.l.n.r) Jan Wagner, Brigitte Oleschinski, Dorothea Grünzweig, Joachim Sartorius, Christoph Peters und Julia Trompeter

Jede Übersetzung ist eine individuelle, ästhetische Interpretation, sie kann ein völlig anderes Gedicht entstehen lassen. Nicht selten habe der Nachdichter die Worttreue, die Wörtlichkeit des Ausgangstextes ganz zu verlassen, „in Richtung auf ein dem Original ent- und zusprechendes Gedicht“ (Paul Celan, 1965). Zugrunde liege auch die eigene Identifikation, der kulturelle Hintergrund oder eine Erwartung des Übersetzers, so Christoph Peters. Besonders geschätzt wurde von den Syrer*innen, dass die Deutschen bekannte Lyriker*innen sind, die Eigenes einbrachten. Gerade aufgrund ihrer Professionalität schreiben sie, so Aref Hamza, Gedichte, die nahe am arabischen Text sind, es sei ihm wichtig, dass die Gedichte so verstanden werden, wie sie gemeint sind, und dass sie in der deutschen Sprache so aufregend und interessant seien wie in der arabischen.

Um herauszufinden, wie die Texte, Metaphern oder Begriffe zu verstehen sind, traf man sich im Garten, im Kaminzimmer oder im Speisesaal. Manche suchten Geselligkeit und Austausch, andere arbeiteten von früh morgens bis spät in die Nacht allein, um dann nur vereinzelt mit den syrischen Dichter*innen zu sprechen. Geklärt wurden formale, handwerkliche Aspekte, wie Rhythmen und Metren, Zeilen- oder Satzlängen; welche arabische Lyrik-Form wird benutzt, ist es ein modernes Prosagedicht oder werden Reime verwendet, wie lässt sich ein Versmaß übertragen, das dem Original entspricht, oder braucht es das vielleicht gar nicht?  Die Fragen waren vielfältig: wie funktioniert die fremde Sprache überhaupt und wie ist das Gedicht einzuordnen? Welche Hintergründe und Bedeutungen haben einzelne Metaphern und Wörter? Wie ist es im Arabischen, wie im Deutschen?

Mohammad Al-Matroud empfand dies auch als Prüfung, er sei es gar nicht gewohnt, inhaltliche Fragen zu beantworten: „Wenn man Gedichte erklärt, verlieren sie, es ist nicht die Aufgabe des Dichters, seine Texte zu erklären.“ Wichtig ist ihm in seinen Gedichten die Beziehung zur Musik, die sich, seit er in Deutschland ist, verstärke, weil er hier seine Sprache verloren habe.

Die Lyriker*innen Aref Hamza, Julia Trompeter, Lina Atfah (vorn), Rasha Omran, Lina Tibli, Mohammad Al-Matroud (hinten)

Gedichte in eine andere Sprache zu übersetzen ist wie ein Blindflug, sagt Hans Thill – dies gilt wohl insbesondere für die deutschen Lyriker, die kein Arabisch können, also nicht mal ansatzweise ein Gefühl für die fremde Sprache haben und denen die Kontrolle fehlt, man blindes Vertrauen haben müsse, so Julia Trompeter. Für Brigitte Oleschinski ist es oft leichter, wenn sie die Ausgangssprache wenigstens lesen kann bzw. sie im weitesten Sinne zu den „indoeuropäischen Dialekten“ gehört. Ohne die Unterstützung des ägyptischen Übersetzers Mahmoud Hassanein und der Praktikanten – Ferman Alkasari und Hiba Mustafa – wäre es wohl schwierig geworden, jene Details zu klären, auf die es ankommt. Dabei ging es um mehr als um das einzelne Gedicht; durch die Auseinandersetzung mit der arabischen Lyrik und ihrer Sprache eröffnete sich ein neuer Kulturraum.

Hat sich das Verständnis für die Sprache, für die andere Kultur durch das Übersetzen verändert? Für Dorothea Grünzweig war es unglaublich fruchtbar; im Gespräch über die Sprache finde, so sagte sie das eigentliche Kennenlernen statt, wurden Ethymologien aufgedeckt und an Sprache gekoppelte kulturelle Universen eröffnet.

Die detaillierten Fragen der Deutschen brachten neue Aspekte für beide Seiten. Im Gespräch von Dorothea Grünzweig mit Mohammad Al-Matroud über das Gedicht „die saiten sind boten …“ war beispielsweise zu hören, dass der Spatz im Arabischen als Stellvertreter für alle kleinen Vögel gilt, er ist austauschbar; anders im Deutschen, wo jeder Vogel eine tiefere Bedeutung haben kann, der Spatz konkret als das Gemeine, Geringste und Unbedeutende mit einer oft negativen Konnotation.

Spatzen und andere Vögel waren viele im Garten in Edenkoben zu hören. Haben sich für die Syrer neue Aspekte durch die Fragen der Übersetzer ergeben? Raed Wahesh bemerkte, dass die deutsche Sprache ebenso dynamisch und kraftvoll ist wie die arabische. Aber es gäbe auch Unterschiede. Während arabische Dichter ihren Wortschatz  und ihre Wortwahl minimierten, profitierten die Deutschen immer noch von dem Reichtum ihrer Sprache. Raeds Schreiben war vor dem Krieg ein ganz anderes als nach dem Krieg. Die alten Texte, die leichter, ironisch und unverbindlicher waren, haben für ihn heute keine Bedeutung mehr, die konkrete Geschichte steht nun im Vordergrund. Die Freiheit beim Umgang mit dem Gedicht ist für den Übersetzer größer, wenn es keine konkrete Geschichte gibt.

Während des Gesprächs mit Jan Wagner, bei dem Mahmoud Hassanein und Hiba Mustafa dolmetschten, bereitete Lina Atfah gefüllte Weinblätter vor, die sie zuvor am Gebäude des Künstlerhauses geerntet hatte. Später gab es diese zum Abendessen.

Die Geschichte hinter dem Gedicht Lin und Leila und der Wolf von Lina Atfah ist sehr konkret. Sie und Jan Wagner redeten darüber, welche Buchstaben beim Lispeln im arabischen schwer auszusprechen sind und welche im Deutschen, besprachen, dass Beduinen nicht aus Kaffeesatz, sondern aus geworfenen Steinen die Zukunft vorhersagen. Dabei fanden sich kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede, so ist im Deutschen der Sitz der Gefühle, speziell der Liebe das Herz, im klassisch Arabischen aber die Leber. So sagt man seinen Kindern (nicht aber der Geliebten): „Du bist meine Leber“.

Enden wir mit einem Gedicht. Es ist von Jacques Roubaud und wurde von Joachim Sartorius, der nicht das erste Mal dabei war, 1995 übersetzt.

 

EDENKOBEN

Auf den Rebstöcken

angeordnet in vollkommenen Reihen

in den Strophen der Reben

warten die Trauben darauf

in Wein übersetzt zu werden

 

während in den Seiten

die französischen Silben

sich darauf vorbereiten

deutsche Poesie

zu werden

 

Und hier noch einige Impressionen (Fotos Maritta Iseler):

Zum Begrüßungsabend war die Edenkobener Weinprinzessin eingeladen. Julia Trompeter (vorne mitte): „Da der Weltbezug besonders wichtig ist, lassen sich anhand arabischer Lyrik sehr viele Erkenntnisse über die Kultur gewinnen, und auch über deren Zerstörung, denn der Krieg in Syrien hat sich in vielen Gedichten in sehr zu Herzen gehender Weise (und ich benutze das Wort „Herz“ hier ganz bewusst im Sinne von Seele, Gedanken, Gefühlen) niedergeschlagen. Das Lesen dieser Texte hat mir mehr und anderes gezeigt, als jeder Zeitungsbericht es könnte.“
Die Auferstehung ist in Mohammad Al-Matrouds (hier vortragend) Gedichten eine Metapher für einen Tag, der alles auf den Kopf stellt, etwa dann, wenn man sein Leben verlässt und nach Deutschland kommt.
Raed Wahesh (hier mit Brigitte Oleschinski): „Ich denke, dass Gedichte – im Gegensatz zu Menschen – mehr als ein Leben haben. Jede Übersetzung eines Gedichts ist eine Wiedergeburt und gibt ihm eine neue Seele in jeder Sprache, in die sie übersetzt wird.“
Brigitte Oleschinski: „Das Arabisch der modernen Poesie wirkt (zumal auf der Folie der aktuellen politischen, religiösen, sozialen Auseinandersetzungen) auf mich immer noch soviel klangvoller, soviel stärker an oralen Mustern orientiert, soviel deutlicher auf ein anzusprechendes (zu verführendes, zu überzeugendes) Publikum gerichtet, dass ich leicht den Eindruck habe, meine Übersetzung zielt schon vergeblich ‚nur’ auf ein ‚gutes Gedicht’, geschweige denn, dass ich die übrigen Implikationen zu fassen bekäme. (…) Andererseits: Das gilt eigentlich für jedes Gedicht.“
Aref Hamza (hier mit Lina Tibli): „Jedes Gedicht wird von der Person, die es schreibt, in dem Moment des Schreibens sehr gemocht, nach der Veröffentlichung wird es dann einfach zu einem Gedicht, wie von jedem anderen.“
Bei einem Ausflug zur Villa Ludwigshöhe waren die syrischen Lyriker*innen besonders an der poetischen Ader Ludwigs I. interessiert: Der König von Bayern schrieb Liebesbriefe an seine Frau, während er vierzig Geliebte hatte. Für Heinrich Heine freilich war seine Hoheit kein Dichter.
Kurz vor Abgabe der Texte für die Lesung am nächsten Tag war es still im Haus, alle arbeiteten intensiv an den letzten Änderungen. Nur Lina Atfahs Lachen war ab und an zu hören. Hier zu sehen Dorothea Grünzweig.
Joachim Satorius und Hans Thill, vertieft in ein Gespräch über Poesie.
AUCH INTERESSANT