Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus vor ihrem Arbeitsplatz bei sich zu Hause. Foto: Juliette Moarbes
Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus vor ihrem Arbeitsplatz bei sich zu Hause. Foto: Juliette Moarbes

Irgendwas ist immer

Ich bin norddeutsch, mein Mann behauptet, er sei das auch, und seit Jahren diskutieren wir über kulturelle Diskrepanzen zwischen Hamburg und Hannover. Ein Plädoyer für den offenen Umgang mit kulturellen Missverständnissen und vermeintlichen Unterschieden in der Liebe.

Von Elisabeth Wellershaus, 01.02.2019

Ich bin mit einer ausgesprochen schamfreien Mutter aufgewachsen. Ich erinnere mich, wie sie mir – damals 15-jährig – von ihren Jahren als Schwesternschülerin erzählte. Vorsichtig hatte ich angedeutet, wie sehr die Sache mit der Sexualität mich verwirrte, da berichtete sie bereits von der fröhlichen Experimentierfreudigkeit ihrer Mitbewohnerinnen. Ich habe so schnell nicht wieder gefragt.

Erst heute weiß ich, was für ein Geschenk ihr offener Umgang mit dem Thema war. Denn trotz aller Fortschritte: Es ist noch immer nicht selbstverständlich, wirklich frei über Sexualität zu sprechen – nicht im globalen Norden, Süden, Osten, Westen – und auch nicht im Dazwischen. Wie in der Liebe geht es uns allen dabei noch immer um so vieles mehr. Es geht um Religion, um Tradition, um vermeintliche Werte und um immer wieder gern beschworene kulturelle Unterschiede, die unseren Umgang mit Liebe und Sexualität bestimmen.

Auch meinen Eltern unterstellten viele, dass die Unterschiede sie auseinandergebracht hätten. Mein Vater ist in einem Jesuiteninternat am Äquator aufgewachsen, meine Mutter in einem atheistischen Hamburger Kapitänshaushalt. Auf den ersten Blick eine klare Sache: Die Beziehung scheiterte an den Kulturen. Doch so einfach war es eben nicht. Am Ende waren es politische Umstände und unterschiedliche Temperamente, die sie auseinanderbrachten. Ihre Gefühle reichten ganz einfach nicht, um in den Nachwirren der Franco-Diktatur – wir lebten in Spanien – eine gemeinsame Ebene zu finden. Doch die Beziehung hat das Scheitern der Romantik überlebt. Aus einer Liebesgeschichte wurde eine Ferienfamilie, in der die Herkunftskulturen aller Beteiligten über die Jahre immer nebensächlicher wurden.

Selbst die Freunde meines Vaters sticheln kaum noch. Nicht wie früher, als sie sich darüber mokierten, wie furchtbar europäisch ich sei. „Immerhin der Po ist afrikanisch“, sagten sie jeden Sommer zufrieden, wenn ich mit meiner Mutter nach Spanien kam. Und ich ärgerte mich – darüber, dass offenbar nur mein Körper zählte, während mein restliches Ich zu deutsch blieb. Ihre Identität schien schließlich auch nicht gerade sattelfest: Mal jubelten sie für Real Madrid, lobten die spanische Küche, dann wieder beschworen sie die Liebe zur guineischen Heimat und die Vorbehalte gegenüber den ehemaligen Kolonisatoren. Doch mittlerweile sind sie altersmilde. Sie gönnen sich selbst die multiplen Identitäten und mir sogar den deutschen Ehemann.

Knapp 15 Prozent aller Ehen in Deutschland sollen heute „gemischte Partnerschaften“ sein, also Verbindungen zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturkreise. Mir kommt die Zahl überraschend klein vor. Aber die Statistik erfasst vielleicht doch nicht alle Spielarten der Interkulturalität. Ich zumindest kenne zähe Auseinandersetzungen über Identitätsfragen, Exotizismus und weiße Privilegien auch aus der eigenen Beziehungsvita. Herkunftsbedingte Untiefen, wie ich sie mit meinem Mann erlebe, sind dagegen eher unterhaltsam: Ich komme aus Hamburg, er aus Hannover, doch absurderweise hält auch er sich für norddeutsch. Irgendwas ist immer.

Im besten Falle sind solche Tücken zu bewältigen. Zumindest dann, wenn die Gesellschaft den Spielraum dafür gewährt. Wenn aber die Skepsis vor bestimmten Paarkonstellationen, patriarchale Machtstrukturen oder Diskussionen um vermeintlich unüberwindbare Unterschiede im Vordergrund stehen, kann die Liebe sich kaum noch um sich selbst kümmern.

Wir müssen bei dem Thema gar nicht erst zwanghaft Richtung Islam schauen. Handlungsbedarf in Sachen Offenheit und Toleranz ist weltweit vonnöten – bei Geschlechtergerechtigkeit, sexueller Freiheit und in Identitätsfragen. Nicht nur in außereuropäischen Kulturen schauen Eltern skeptisch auf die Partnerwahl ihrer Kinder. In der Generation unserer Eltern war es zum Teil noch eine große Sache, wenn ein Protestant eine Katholikin heiratete. Von Sex vor der Ehe ganz zu schweigen. Und dass gewisse Machtmechanismen kultur- und religionsübergreifend wirken, wissen wir spätestens seit #MeToo.

Doch was machen wir mit diesem Wissen? Wenn es nach meinem achtjährigen Sohn geht: gar nichts. Für ihn ist Knutschen so ziemlich das Widerwärtigste auf der Welt. Wenn er bestimmen könnte, würde niemals, nirgendwo über das Küssen und verwandte Themen gesprochen werden. Zum Glück ist er aber nicht allmächtig, und ich kann weiter darüber reden. Darüber, dass Liebe und Sexualität sich im 21. Jahrhundert auf die privaten Stolpersteine konzentrieren sollten, während wir den angemessenen Raum dafür schaffen. Schon für den Fall, dass er seine Meinung zum Küssen doch noch ändert.

Diesen Monat schreibt die sudanesische Schriftstellerin Fatin Abbas über ihre Dating-Erfahrungen mit deutschen Männern und die Erwartungen ihrer Familie. Rasha Hilwi beschreibt, wie sich die Wahrnehmung des eigenen Körpers in der Diaspora verändern kann. Und die Kuratorin Mahret Ifeoma Kupka erzählt in unserer „Wir kochen das“-Serie davon, wie ihre nigerianische Mutter sie in die Geheimnisse eines norddeutschen Grünkohlgerichts einweiht.

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