In ihrer Fotoreportage erzählt Inés Dümig von einer jungen Frau aus Somalia – und vom Wiedererlangen der Würde.
Von Juliette Moarbes, 17.12.20182015 flüchteten so viele Kinder und Jugendliche ohne Begleitung ihrer Eltern nach Deutschland wie nie zuvor. Auch Sahra war eine von ihnen. Inés Dümig lernte sie in München kennen und hat ihr Leben, das sie von Somalia über Ägypten, Libyen und Schweden nach Deutschland führte, von diesem Moment an fotografisch begleitet. Mit ihrer Serie versucht Dümig, der oftmals stereotypen Berichterstattung etwas entgegenzusetzen – indem sie Sahra aus nächster Nähe porträtiert.
Du hast ein poetisch-fotografisches Porträt deiner Protagonistin Sahra aus Somalia erstellt. Wer ist Sahra und wie habt ihr euch kennengelernt?
Sahra wurde in Somalia geboren und mit 13 Jahren von ihrer Mutter nach Europa geschickt. Nach einer dreijährigen, unglaublich strapaziösen Reise mit dem Schlepper durch Ägypten, Libyen und durch die Sahara gelangte sie mit dem Boot nach Italien. Nach Monaten in den Straßen des Landes versuchte sie, Asyl in Schweden zu beantragen, wurde aber ausgewiesen und zurück nach Italien geschickt. Die Umstände dort müssen so schlimm gewesen sein, dass sie mithilfe eines Anwalts noch einmal probierte, in Deutschland Asyl zu bekommen. Seit mittlerweile zehn Jahren lebt sie in München. Aber die Vergangenheit lässt sie natürlich nicht los: Immer wieder musste Sahra monatelang arbeiten, um ihre Weiterreise zu finanzieren, immer alleine, oft unter menschenunwürdigen Umständen. Trotz fließender Deutschkenntnisse, einer Ausbildung als Arzthelferin und Steuern, die sie zahlt, lautet ihr Aufenthaltstitel nach wie vor: Aufhebung der Abschiebung. Wir haben uns im Rahmen eines Kreativ-Workshops für Mädchen von Refugio kennengelernt, in einer Erstaufnahmestelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in München.
Deine Serie über Sahra ist 2015 entstanden, im Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise. Entgegen der allgemeinen Darstellung von „Flüchtlingsströmen“ hast du dich entschieden, deine Protagonistin aus der Nähe zu zeigen. Warum?
Sahras Geschichte ist eine besondere. Aber auch in Bezug auf die Gesamtsituation wollte ich etwas machen, das reflektiert, wie wenig Berührungspunkte mit Neuankömmlingen es in Deutschland noch immer gibt. Wir erfahren so vieles nur oberflächlich und meinen, alles auf eine gewisse Art schon mal gehört zu haben. Darauf wollte ich den Fokus lenken. Darauf, dass wir an die schlimmen Umstände, die eine Flucht begleiten, schon gewöhnt scheinen, sodass wir uns nicht mehr richtig berühren lassen. Auch Sahras Geschichte wäre vermutlich unter all den anderen untergegangen. Die Bilder sollen deshalb einen Einblick in die verschiedenen Bereiche ihres Lebens geben, ihre Persönlichkeit und ihr Schicksal beleuchten. Ich will davon erzählen, wie Sahra versucht, Teil einer neuen Welt zu werden, wie sie die Deutschen und ihre Kultur reflektiert. Wie sie durch ihre, nach wie vor, ungelöste Situation und aufgrund all ihrer Erfahrungen keine stabile Identität entwickelt – sondern viele verschiedene. Ihr Leben erinnert mich an ein Mosaik oder Labyrinth, die Lebenslinien auf ihren Händen sind für mich ein poetisches Symbol. Auch weil Sahras Fingerabdruck eine große Rolle in ihrer Geschichte spielt, sehe ich diese Linien in Bezug auf ihre Reise – auf die Distanz, die sie in so jungen Jahren zurückgelegt hat.
Du beschäftigst dich in diesem Zusammenhang mit dem Thema Würde. Was genau wolltest du vor diesem Hintergrund von der Person Sahra zeigen?
Isolation ist eines der Hauptthemen in ihrer Geschichte. Deswegen wollte ich sie alleine fotografieren. Es geht mir um das Thema von Nähe und Distanz, das in Sahras Geschichte eine zentrale Rolle spielt. Die Bilder wurden auf eine Art gemacht, durch die sie ihre visuelle Ganzheit verloren haben – weil auch von Sahras Geschichte nur kleine Teile erzählt werden können. Mir ging es darum, den Blick herauszufordern. Zu verstehen, dass die Geschichten, die wir in den Medien sehen, aus der Wahrnehmung von Professionellen erzählt werden. Ich wollte meine Protagonistin nicht als Opfer sehen und selbst nicht in der passiven Perspektive der Betrachtenden verharren.
Hat sich, deiner Meinung nach, die mediale Herangehensweise an die Gesamtthematik Flucht seit 2015 verändert?
Es gibt viele tolle Künstler*innen, die sich der Thematik mit Respekt, Mut und Liebe gewidmet haben. In dieser Hinsicht tut sich viel. Aber es gibt leider immer noch eine teilweise sehr einseitige und manchmal auch rassistische Berichterstattung.