Illustration: Tuffix (2018)
Illustration: Tuffix (2018)

Mein Selfie mit Angela Merkel

Im fünften Teil unser JIK puzzle Kolumne schließt Mulla Çetin eine Wette ab und es bleibt bis zuletzt spannend, ob es ihm tatsächlich gelingen wird, ein Foto mit der mächtigsten Frau der Welt zu schießen.

Von Mulla Çetin, 12.04.2018

Sommer 2016 – ein Jahr nach dem Herbst der Entscheidungen stehe ich im politischen Zentrum der Republik. Dem Bundeskanzleramt in Berlin. Die Geschichten großer Politikerinnen und Politiker haben mich schon früh in ihren Bann gezogen. Nun möchte ich dem größten aller Phänomene auf die Spur gehen. Dem Mythos Angela Merkel. Da stehe ich nun, vor den eisernen Toren der Macht und weiß: wer das Land verändern will, der muss hier rein. Gebangt und verloren in Träumen, jagt in meinem Geist eine Phantasterei die andere. Sie alle enden mit einer Idee: Ein Selfie mit der mächtigsten Frau der Welt.

Einige Wochen vorher. Nach einem langen Tag in der Uni finde ich zuhause angekommen im Newsfeed auf Facebook folgende Veranstaltung: Der 18. Tag der Offenen Tür im Bundeskanzleramt am 27. und 28. August 2016. So oft habe ich schon davon geträumt einen Blick hinter die Kulissen der Politik zu werfen, denn eines Tages will ich auch dorthin. Dinge in Bewegung zu setzen, Utopien Wirklichkeit werden zu lassen, und sich im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft zu verewigen, das ist mein Traum. Ein Freund und ich beschließen, uns diese Gelegenheit nicht entgehen zu lassen.

28. August 2016. Am zweiten Tag unserer Safari-Tour durch den politischen Dschungel von Berlin machen wir uns auf den Weg zum Bundeskanzleramt. Am Abend zuvor hat mein Vater gescherzt, dass ich doch bitte auch Merkel grüßen solle und dass er sie, im Gegensatz zu mir, sogar schon einmal persönlich gesehen hätte. Wie oft ich mir diese Geschichte schon anhören musste.
Vor einigen Jahren hatte er sie auf der mehrspurigen Bismarckstraße Richtung Technische Universität fahren sehen. Sie soll damals etwas gelesen haben und ihre Staatskarosse sei von einer Polizeikolonne begleitet worden. Das war seine nennenswerte Begegnung. „Gut, na dann lass uns doch wetten!“, konterte ich an diesem Abend. „Ich werde sie nicht nur „grüßen“, nein, ich werde sogar ein Foto mit ihr schießen!“ Der Startschuss war gefallen.

Es ist ein sehr heißer Tag. Die ganze Stadt ist auf den Straßen und der Schweiß läuft uns allen über das Gesicht. Schon eine halbe Stunde warten wir in einer langen Schlange, ohne richtig voran zu kommen. Während ich warte, muss ich ständig über diese spöttische Wette nachdenken. Hier sind so viele Menschen. Was wäre aber, wenn ich ihr wirklich gegenüberstünde? Wie sollte ich sie ansprechen und was sollte ich ihr sagen? Während ich mir diese wahnsinnige Idee immer weiter ausmale, wird daraus nach und nach ein ernsthafter Plan. Wann werde ich sonst schon nochmal die Gelegenheit erhalten, sie zu sehen, und darüber hinaus habe ich schließlich noch eine Wette offen. Die Schlange bewegt sich endlich. Mit jedem Schritt nach vorne komme ich meinem Wunsch  immer näher. Plötzlich wird mir übel. Ist es etwa ein Hitzschlag? Nein, es ist nur die Erkenntnis, wem ich da tatsächlich begegnen könnte. Aber wer ist eigentlich diese Frau von der ich stets nur in den Nachrichten höre? Die sowohl geliebt als auch gehasst wird. Eine Kanzlerin, die fast mein halbes Leben Kanzlerin ist und mich in all den Jahren nie für sich gewinnen konnte. Jetzt, wo ich sie für ihre Standhaftigkeit in der Flüchtlingskrise bewundere, niemanden abzuweisen, der vor Krieg und Verfolgung flieht, soll sie die schwerste Krise ihrer Amtszeit erleben?

Die Schlange bewegt sich weiter nach vorne. Schritt um Schritt um Schritt. Ist man nach so langer Zeit an der Macht überhaupt noch volksnah? Kennt sie die Sorgen der einfachen Bürgerinnen und Bürger? Weiß sie wie viel ein Pfund Butter heutzutage kostet? Steht sie auch für mich ein?
Einen muslimischen deutschen Staatsbürger mit türkischem Migrationshintergrund, der eines Tages selbst in die Politik will? Fest steht, dass ich es nicht weiß. Ich fürchte plötzlich, die Wette zu verlieren. Nach einer gefühlten Ewigkeit und der abschließenden Sicherheitskontrolle setze ich meinen Fuß nun endlich auf hoheitlichen Boden. Der Andrang ist groß und alles so offiziell, sogar ein roter Teppich ist ausgerollt.

14 Uhr – im Hauptgebäude haben sich alle versammelt. Im Gedrängel wird ein Kampf um den besten Platz ausgetragen. Ich stehe ganz vorne neben zwei alten Damen. Wir haben uns angefreundet, wie das eben auf solchen Veranstaltungen üblich ist. Der gemeinsame Wunsch, die Kanzlerin hautnah und unzensiert zu sehen, hat uns zusammengeführt. Die quälenden Minuten vor dem großen Auftritt, scheinen so erträglicher zu sein.

14:23 Uhr. Die Smartphones sind gezückt für den einen Moment. Plötzlich geht ein Raunen durch das Kanzleramt. Ich höre nur „Angela! Angela!“, doch sehe nichts. Aufgeregt blicke ich in jede erdenkliche Richtung. Da! Da kommt sie! Ich schreie wie ein pubertärer Fan, der sein Idol zu Gesicht bekommt: „Frau Merkel, Frau Merkel ein Foto bitte, Frau Merkel!“. Sie ist nur einen Meter von mir entfernt. „Jetzt kommt mein Moment“, denke ich mir und drehe mich schon mal für das Selfie um. Doch was geschieht? NEIN! Sie läuft eiskalt an mir vorbei ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Es ist aus. Aus. All die Mühe umsonst. Ich versinke im johlenden Rausch der Menge. Nein, damit gebe ich mich nicht zufrieden, ich suche mir eine andere Lücke. Dort angelangt brülle ich erneut drauf los: „Frau Merkel, Frau Merkel!“. Dieses Mal kommt sie tatsächlich zu mir! Jetzt bloß keinen Fehler machen. *Klick*, *Klick*. Gespeichert. Sieg. Ich habe es geschafft!
Ein Foto mit Angela Merkel!

Auf dem Weg nach Hause schaue ich es mir dutzendfach an. Sie ist genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte, vielleicht etwas kühler als gedacht. Sie wirkt sympathisch, aber distanziert, populär und gleichzeitig bürgerlich. Das ist ihr Erfolgsrezept. Das ist das Geheimnis der Angela Merkel. Und ich? Ich bin stolz. Warum? Weil ich ein Ziel, das unmöglich schien, erreicht habe. Zum ersten Mal in meinem Leben ist Politik für mich greifbar gewesen. Wenn das möglich war, dann ist der Wunsch in die Politik zu gehen, ja sogar selbst Kanzler zu werden, keineswegs nur ein unerreichbarer Traum. Es ist machbar. Auch eine Angela Merkel ist nur ein Mensch, auch ihre politische Karriere fing mit einer Idee ein. Das ist die große Erkenntnis des Tages.
Zuhause angelangt, präsentiere ich das Foto wie einen Pokal. Die Wette, die als ein Scherz begann, endete mit einem Selfie mit der mächtigsten Frau der Welt.

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