Als Diana Wucherer aus Kasachstan nach Deutschland kam, war sie studierte Landschaftsökologin. Ein Beruf, in dem sie hier kaum Chancen hatte. Also sattelte sie auf Pharmazie um, arbeitet heute als Apothekerin und unterstützt von Greifswald aus die Familie in der alten Heimat. WIR MACHEN DAS hat sie von ihrem Leben erzählt.
Fotografin: Ceren Saner
Von Stella Hombach, 06.07.2020Pünktlich um zwölf Uhr kommen die Fotografin Ceren Saner und ich am Hauptbahnhof in Greifswald an. Wenig später parkt ein kleines blaues Auto neben uns, eine hochgewachsene Frau steigt aus und winkt uns enthusiastisch zu. Ihre blonden Locken wippen auf und ab. Als ich Diana Wucherer gegenüberstehe, strecke ich ihr intuitiv die Hand entgegen und weiche erst im letzten Moment auf eine Begrüßung per Ellenbogen aus – Corona hätte ich bei der Herzlichkeit, die sie ausstrahlt, fast vergessen. Ihre Geschichte will sie uns in einem kleinen Fischerdorf außerhalb der Stadt erzählen.
Die Vierzigjährige arbeitet in Greifswald als Apothekerin. Sie bezeichnet sich als „Einheimische“, seit gut fünfzehn Jahren lebt sie jetzt hier. Geboren und aufgewachsen ist Diana in Kasachstan – genauer gesagt in der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Ihre Kindheit erinnert sie als „satt und glücklich“. Ihr Vater war Ingenieur, ihre Mutter Deutschlehrerin an der Militärakademie. Daheim in Almaty gab es einen großen Garten mit Tomaten, Gurken, Heidelbeeren und Wassermelonen. Sie selbst ging mit Freunden und Freundinnen zu den Pionieren und studierte später Landschaftsökologie. Von den gesellschaftlichen Problemen im Land bekam sie kaum etwas mit. Nichts von der eingeschränkten Pressefreiheit. Oder davon, dass die Ideen des nationalen Wiederaufbaus nach dem Austritt aus der Sowjetunion erstarkten und viele Russen, Tschetschenen, Deutsche oder Uiguren aus ihren Ämtern verdrängt wurden. „Ich war einfach ein Teenager“, erzählt Diana.
Den Umbruch erlebte sie Anfang der 90er Jahre vor allem ökonomisch: „Meine Eltern verloren ihre Anstellung, in der Schule fehlten Lehrer*innen, weil immer mehr Menschen das Land verließen oder eine besser bezahlte Arbeit suchten.“ Im Jahr 2003 heiratete Diana einen Russlanddeutschen und folgte ihm nach Bielefeld. Für sie selbst bedeutete der Umzug eine finanzielle Verschlechterung: Sie hatte gerade ihre Promotion angefangen, erstellte für eine Firma ökologische Bewertungen von Erdölanlagen und bestritt erstmals ihren Lebensunterhalt selbst.
In Bielefeld machte sie ein Praktikum an der biologischen Fakultät. Ein Jahr später wurde sie schwanger. Um eine dreiköpfige Familie zu ernähren, reichte ihr Gehalt jedoch nicht aus. „Für eine Stelle als Landschaftsökologin war mein Deutsch noch nicht gut genug“, erzählt sie. Zudem war das Diplom aus Kasachstan auf dem Arbeitsmarkt weniger wert als das deutsche. Sie brauchte einen Beruf, bei dem sie nicht mit Einheimischen konkurrieren musste und langfristig genug Geld verdienen würde. Also begann sie Pharmazie zu studieren und ging nach Greifswald. „Apotheker*innen wurden damals stark gesucht“.
Mittlerweile sitzen wir in Wieck am Wasser. „Hier mündet der Fluss Ryck in die Ostsee“, erklärt Diana. An diesem Ort sitzt sie gerne, schaut zu, wie sich die Brücke vor uns alle paar Stunden hebt und die dort liegenden Boote ins Meer entlässt. Ein älterer Mann kommt vorbei und setzt sich neben uns auf die Bank. Schnell entspinnt sich zwischen ihm und Diana ein Gespräch. Der Mann kommt aus Lübeck und ist mit seinem Fahrrad auf dem Weg nach Stralsund. Diana schwärmt von einem Theaterbesuch in Lübeck. Wirklich toll sei der „Fliegende Holländer“ gewesen. Dann hat der Mann sein Fischbrötchen aufgegessen, verabschiedet sich und steigt wieder aufs Rad. Dass Diana sich in Greifswald so heimisch fühlt, liegt unter anderem daran, dass sie Deutschland angenommen hat. Mit Werten wie Pünktlichkeit und Ordnung konnte sie sich schnell identifizieren. Zu ihren Lieblingsbüchern gehören neben „Die Brüder Karamasow“ auch Thomas Manns „Buddenbrooks“. Anders als viele Geflüchtete, die 2015 nach Deutschland kamen, musste sie zudem nie Angst davor haben, zurückgeschickt zu werden. „Das schafft Sicherheit und erlaubt es, sich voll und ganz auf das neue Leben einzulassen.“
Auch ihr Job als Apothekerin gefällt ihr. Gerade in Zeiten von Corona merkt sie noch mal, wie wichtig und sinnvoll er ist. Dazu die Dankbarkeit der Leute. Nur als das Desinfektionsmittel in ganz Mecklenburg-Vorpommern ausverkauft war, fühlte sie sich kurz wie die Statistin in einem Krimi: Mit einer Sondergenehmigung besorgten ihre Kolleg*innen das Ethanol, das sie zur Herstellung brauchten, aus einer Zuckerfabrik in Anklam. Fünf Stunden lang mussten sie dort anstehen. Danach ging es zur Produktion ins Labor. Dabei ständig die Ungewissheit, wie lange dieser Ausnahmezustand dauern würde. Doch Diana hat schon einiges mit ihren deutschen Kolleg*innen erlebt, fühlte sich von Anfang an wohl in der Apotheke, in der sie ihr praktisches Jahr absolviert hat und wo sie bis heute arbeitet. „Sie sind meine zweite Familie.“
Hört man Diana zu, klingt ihre Geschichte überraschend leicht. Erst in Nebensätzen wird deutlich, dass es nicht immer so einfach war. Während Kommiliton*innen für ihre Prüfung am Strand lernten, musste Diana sich um ihre Tochter kümmern. Sie und ihr Mann hatten sich inzwischen getrennt. Als die Abschlussprüfungen anstanden, kam ihre Mutter eigens aus Kasachstan angereist – was nur deshalb ging, weil die Caritas ihr Geld lieh. Mit dem stabilen Einkommen aus der Apotheke ist es Diana heute möglich, einmal im Jahr Freund*innen und Eltern in Kasachstan zu besuchen. Ein Flug für zwei Personen kostet an die 1.500 Euro. Für ihren Vater, der an der Lungenkrankheit COPD leidet, zahlt sie die Medikamente; für ihre Mutter übernahm sie letztens die Kosten für eine Operation an den Nieren. Ein Gesundheitssystem mit umfassenden Leistungen wie in Deutschland gibt es in Kasachstan nicht.
Wie einengend sich ihre Jugend zwischenzeitlich angefühlt haben muss, wird daran erkennbar, was sie an Deutschland schätzt. „In Kasachstan sind Gesellschaft und Gemeinschaft das Wichtigste“, sagt Diana. Hier in Deutschland fühle man sich als Einzelne*r wichtig. Was andere hier als Vereinzelung beklagen, empfindet sie als Freiheit. „Wenn ich in Deutschland zur Wahl gehe, zählt meine Stimme wirklich“, sagt sie. In Kasachstan regierte Präsident Nursultan Nasarbajew bis zum vergangenen Jahr gut dreißig Jahre lang nahezu als Alleinherrscher. Dass rechte Parteien wie die AfD hierzulande immer mehr Stimmen bekommen – in ihrem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern wurde sie bei den Landtagswahlen 2016 zweitstärkste Partei –, betrifft Diana im Alltag nicht allzu sehr. Ja, ab und zu gebe es fremdenfeindliche Sprüche wie die Frage, ob sie überhaupt schreiben könne. Solche Begegnungen seien jedoch die Ausnahme. Die meisten Menschen freuten sich eher darüber, dass sie aus Kasachstan komme, und fingen an, ihr angerostetes Russisch herauszukramen. „Wäre das anders, würde ich gehen“, sagt Diana.
Wie wird aus Unbekanntem Vertrautes? Diese Frage stellt sich WIR MACHEN DAS seit Jahren in einer Gesprächsreihe über Berufe – bei Meet Your Neighbours. Mit Corona ist das direkte Gespräch vorerst nicht mehr möglich. Deshalb stellen wir im Magazin Menschen vor, die aus migrantischer Perspektive von ihrer Arbeit erzählen. Hier finden Sie alle Beiträge der Serie.