Wie Städte und Kulturen verschmelzen: Für das Projekt Mapping / Damaskus erkundet die Autorin Svenja Leiber, was Berlin und Damaskus verbindet.
Von Svenja Leiber, 14.09.2019„Jeden Tag durchqueren und organisieren sie die Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes“
(Michel De Certeau 1988: S. 215).
…und denke, die Idee eines Ortes ist, dass er kein anderer Ort ist. Man kann von A nach B, weil B nicht A ist. Man ist in Berlin, weil man nicht in Damaskus ist, und umgekehrt. Trotzdem haben Orte die Angewohnheit, sich zu dehnen, zu wandern, sich übereinander zu legen: Hinterrücks überfällt mich an einer Straßenecke ein Déjà-vu; unvorbereitet trifft mich ein Geruch und ich bin plötzlich woanders; oder ich weiß einen Weg, ohne dass ich ihn schon einmal gegangen bin. Laut Michel De Certeau bilden sich, ausgehend von definierten Orten, durch ihre Durchquerer, die Fußgänger, tatsächlich Räume, die im Gegensatz zum einfachen Ort, einem Netzwerk von wandlungsfähigen Gliedern entsprechen und weder eindeutig noch zuordenbar sind.
Ob ich je Ähnlichkeiten zwischen Berlin und Damaskus entdeckt hätte, fragte mich Dima beim Kaffee, ob es für mich Überschneidungen gebe, Erinnerungen, bei denen ein Ort in den andern fließe? Und mein erster Gedanke war: Welches Damaskus? Welches Berlin? Das erzählte Damaskus, uralt, sagenhaft, wie ich es mir als Kind immer vorgestellt hatte, wenn in manchen Sagen damaszener Klingen und Karawansereien auftauchten? Oder das reale Damaskus, falls es das gibt, und falls ich davon etwas weiß? Sollte ich das Berlin aus der Literatur nehmen oder das von Menzel-Gemälden, das der 20er Jahre, Ostberlin, Hauptstadt der DDR, oder das gegenwärtige? Das architektonische Berlin? Das atmosphärische? Das politische? Sollte ich die beiden Städte mit oder ohne ihre Kriege aufrufen? Aber was weiß ich von Krieg?
Ich könnte darüber sprechen, dass beide Städte auf Sand stehen und dass dieser Untergrund für mich Nervosität und Wachheit bedeutet. Ich könnte über die Dächer sprechen, denn hier wie dort lieben es die Menschen, hoch über der Stadt zu sitzen und zu diskutieren. Ich könnte über die Reminiszenzen an sozialistische Bauästhetiken sprechen, die sich in beiden Städten leicht finden lassen.
Aber Dima meinte etwas anderes, etwas Konkreteres, schien mir, denn sie erzählte von Syrer*innen in Berlin, die ganze Straßenzüge nach Straßen in Damaskus benennen, weil sie eine so starke Ähnlichkeit erleben.
Sie war aufgestanden, um noch einen Kaffee zu holen, und ich hatte Zeit, mich zu erinnern. Es gibt tatsächlich zwei Bauwerke, die sich für mich übereinanderlegen und beide Städte verknüpfen. Vielleicht ließe sich an ihnen der Übergang vom Ort zum Raum sogar beschreiben.
Ich besichtigte 2010, in einen grauen Touristinnenkittel gehüllt, eine Art Leihkaftan mit Kapuze, den weiten Hof der Umayyaden-Moschee in der Altstadt von Damaskus. Das Gebäude ist an sich schon eine interessante Verschmelzung der Kulturen und Zeiten, da es, am Ort des uralten Heiligtums eines phönizischen Wettergottes und späteren Jupitertempels, zunächst als christliche Basilika errichtet wurde, um in den Jahren 706 bis 715 in eine Moschee umgewandelt zu werden. Heute ist es ein Pilgerort für Moslems und Christen, da man hier sowohl den Kopf Johannes des Täufers als auch den al-Husains, des Enkels Mohammeds, als Reliquien verehrt.
Mitten auf dem Innenhof steht ein Ding, ein kleines Bauwerk, erst glaubte ich, es sei so etwas wie ein Wasserbehälter oder ein Taubenhaus, ein achteckiges, mit wunderschönen Paradiesmosaiken geschmücktes, und von einer Kuppel überwölbtes Gebilde auf acht römischen Säulen, ohne erkennbaren Zugang. Darunter, im Schatten, saßen Menschen und schienen zu warten oder sich auszuruhen.
Es handelte sich um das Schatzhaus, Qubbat al-Chazna, einen früheren Aufbewahrungsort für das Gold der Moschee, für Steuereinnahmen, aber auch für kostbare Schriftrollen.
Ich weiß nicht, ob es die Lage auf dem Platz, das Treffpunkthafte, oder die Form selbst war, die mir jetzt im Café wieder einfiel und ein zweites Bauwerk aufrief, und zwar nicht die große, achteckige Sehitlik-Moschee in Berlin-Tempelhof, sondern die Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz, die vor fünfzig Jahren von dem Designer Erich John entworfen, und vorab zum zwanzigjährigen Jubiläum der DDR aufgestellt wurde. Wieder ein merkwürdiges Vieleck, an dem sich die Leute verabreden oder aufeinander warten, hier mit vierundzwanzig Seiten, die aber nicht den Ort der Zeitlosigkeit, das Paradies, darstellen, sondern die Zeit selbst, stehend auf einer einzigen statt auf acht Säulen, nicht gleich am Ort eines uralten Wettergottes, tatsächlich aber exakt an der Stelle, wo früher einmal eine alte Wettersäule, und zwischendurch wohl auch einmal die Figur der Berolina gestanden hat. Und darüber keine Kuppel, kein geschlossenes Himmelsgewölbe, sondern der offene Kosmos, eine sozialistische-modernistische Metallkonstruktion des Sonnensystems mit seinen Planeten und deren symbolisch gestalteten Bahnen.
Je mehr ich über die beiden Bauwerke nachdachte, desto mehr verschmolzen in ihnen die paradiesische Vorzeit, der Gang durch eine Geschichte der religiösen Kämpfe, der totalen Kriege, hin zu einer neuen, säkularen Zeit und Vision einer Zukunft der gerechten und friedlichen Weltgemeinschaft innerhalb eines gemeinsamen Kosmos.
Dazwischen steht aber der große Bruch. Denn die Weltzeituhr ist nicht nur eine Vision, sie ist auch ein Zeichen einer totalen Zäsur auf einem Platz, der zerstört war, einer Tabula rasa, auf der man architektonisch etwas in jeder Weise Neues versuchte, etwas anderes als alles, was vor dem Zweiten Weltkrieg dort existiert hatte.
2010 glaubte ich in Damaskus tatsächlich noch, an einem Ort der alten Welt zu sitzen, an Quellen und Ursprüngen uralter Kulturen, die zwar Kämpfe und Besatzungen erlitten hatten, aber vom großen Bruch verschont geblieben waren, was natürlich eine fromme Vorstellung war. Ich ahnte damals nicht, dass auch diese Welt schon ein halbes Jahr später zerbrechen würde und dass ich wenige Jahre später in einem Café in Berlin von einer jungen Journalistin aus Damaskus gefragt werden würde, ob es für mich in beiden Städten Orte gebe, die etwas miteinander zu tun hätten.
Ich ahnte auch nicht, dass der Berliner Versuch, mit einer ganz neuen Architektur eine neue Welt zu entwerfen, ein interessanter, aber fehlerhafter Traum war. Die Tabula rasa mag für den Ort real gewesen sein, nie aber für seine Bewohner*innen. Was man durch radikale äußere Veränderungen zu korrigieren hoffte, hat keine neuen Menschen gemacht, und längst steht das Stadtschloss in der Nähe wieder, die restaurierten Adler gucken allerorten von den Dächern, und die Kinder und Enkelkinder der Revolutionen und neuen Architekturen schreien heute wieder nach alten Formen und Autoritäten.
Vielleicht müsste man also doch den Versuch machen, so mühsam er ist, das Neue zu erreichen, ohne das Alte zu vernichten. Nicht Revolution, sondern Verwandlung, Umschreibung.
Blicke ich auf die Fragen und Themen meiner Gegenwart, auf die Fragen des Zusammenspiels und des Zusammenlebens der Kulturen und Menschen, des Zusammenspiels zwischen Damaskus und Berlin, zwischen Dima und mir, dann erscheinen mir diese Fragen mitunter wie verschlüsselte Anagramme, deren Lösungen aber bereits in der Gegenwart enthalten sind. Vor meinen Augen wird im traurigen und heiteren Humor des Jetzt, im amorphen Humus der Spaziergänge der Vielen, der Ort zum Raum, zerbrechlich und zum Schwindeln schön.
*Erschienen in der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung am 5. September 2019