Friederike und Leyla lernten sich im Rahmen einer Patenschaftsprojektes kennen. Inzwischen ist daraus eine Freundschaft geworden. Im zweiten Teil dieser kleinen Serie begleitet die Autorin Leylas Weg auf den deutschen Arbeitsmarkt und beschreibt wie wichtig dieser Schritt für das Ankommen in einem neuen Land ist.
Von Friederike Aps, 09.10.2017Leyla hat zwei Vorstellungsgespräche für einen Ausbildungsplatz zur Operationstechnischen Assistentin. Unser WhatsApp-Chat ist voller fröhlicher Smilies und Herzen. Sie lächelt enthusiastisch und nervös, als sie mir die Tür öffnet, wie immer ein Küsschen rechts, eins links und ich wedele mit meinen Zettel in der Hand, den ich auf der Arbeit schnell mit möglichen Fragen für das Vorstellungsgespräch vollgekritzelt habe. „Dieser Tag wird der Wichtigste in meinem Leben“, sagt sie und sie meint nicht ihren Geburtstag am nächsten Tag, sondern ihr erstes Vorstellungsgespräch nächste Woche. Bei viel zu süßem Kaffee üben wir die Fragen. Als wir zu den Hobbys kommen, guckt sie irritiert. „Kann ich sagen, ich hatte seit dem Krieg keine Zeit mehr für Hobbys?“ Sie lacht, also lache ich auch. Leyla sitzt mir heute mit offenen Haaren gegenüber. Jedes Mal wieder bin ich über die Veränderung in ihrem Gesicht erstaunt, wenn sie keinen Hidschab trägt. Es klopft an der Tür, der Nachbar, ein kleiner Junge. Leyla legt sich ein Tuch auf das Haar und öffnet die Tür. Ihr Vater rollt die Augen, murmelt leise „ … ist doch nur ein kleiner Junge“. Aber es geht nicht nur darum, dass sie sich nicht vor einem kleinen Jungen mit offenen Haaren zeigen will, sondern auch um ein letztes bisschen Privatsphäre in einem Lebensraum, in dem es so was eigentlich gar nicht mehr gibt.
Leyla teilt sich nun schon seit über zwei Jahren das Zimmer mit ihrem Vater. Sie spricht das bessere Deutsch, sie hat den Durchblick. Er sitzt auf seinem Bett und beschäftigt sich irgendwie oder bringt mir Obst, selbstgemachte Crepes, kleine Pizzabrötchen, Törtchen. Zeigt mir Fotos von seiner Zeit als Chefkoch. Leyla sagt was auf Arabisch und ich lächele, wie ich es immer tue, wenn sie vor mir in ihrer Muttersprache reden. Sie guckt mich an, sagt: „Tut mir Leid, aber ich muss kurz.“ Dann setzt sie sich wieder zu mir.
In letzter Zeit hat sie hier und da Schmerzen, aber sie erzählt nur mir davon. Sie will stark sein, ein Fels in der Brandung. Sie wirkt dadurch fast übermenschlich. Das macht mir Sorgen. Aber ich höre ihr einfach weiter zu.
Leyla ist jung und intelligent, hat Abitur und zu Hause schon mit dem Studium angefangen. Sie spricht Arabisch, Englisch, Türkisch und Deutsch. Sie hat eine Aufenthaltserlaubnis von drei Jahren. Alle Zeugnisse sind übersetzt und beglaubigt, sie hat B2 und C1 Deutsch-Zertifikate. Dennoch war es für sie vor einigen Wochen fast unmöglich einen Praktikumsplatz zu bekommen. Den brauchte sie aber zwingend, um sich überhaupt für eine Ausbildung bewerben zu können. Sie wollte bereits zurück nach Hause, nach Syrien. Zu ihrer Mutter, ihrer engsten Vertrauten. Über zwei Jahre ist es her, dass sie sie gesehen hat.
Also schilderte Leyla in einem Facebook-Forum für weibliche Geflüchtete ihre Probleme. Wie es der Zufall wollte, war dort jemand, der über mehrere Ecken einen kooperativen Arzt kannte. So bekam sie einen Praktikumsplatz. Sie strahlte. Jemand hatte den Lichtschalter angeknipst, sie war wieder Mensch. Aufgeregt erzählte sie mir vom OP-Saal und den Geräten, den Handschuhen, verschiedene Farben und Größen. Das Niveau auf dem sie erzählte, entsprach den gleichen Aufgeregtheiten, die Muttersprachler genauso hätten. Ich hörte zu und musste einmal nicht so etwas Leeres sagen wie: „Das wird schon.“ Es war eine kurze Zeit der Leichtigkeit.
Aber jemand knipste das Licht wieder aus. Leyla wurde am Arbeitsplatz stumm verdächtigt ein Handy gestohlen zu haben. Das Handy war weg und plötzlich sprach niemand mehr mit ihr. Als man es wiederfand, taten alle so, als wäre nichts gewesen. Für Leyla waren die letzten Tage im Krankenhaus eine Qual.
Eine Freundin von ihr erlebte noch Schlimmeres. Auch sie hat ein Praktikum im Krankenhaus angefangen und konnte an einem Tag nicht an den Arbeitsplatz kommen, weil der öffentliche Nahverkehr lahm lag. Sie rief an und die Krankenschwester versprach dem Oberarzt Bescheid zu geben. Das geschah aber nicht und sie durfte das Praktikum nicht zu Ende machen. Als mir Leyla diese Geschichten erzählte, saß ich ihr Gegenüber wie eine Idiotin. Ich wand mich auf meinem Stuhl und sagte Dinge, die an den weißen Wänden ihres Zimmers wiederhallten und im Nirwana der Hilflosigkeit verschwanden.
Leyla aber bekam ihr Praktikumszeugnis und bewarb sich für die OTA-Ausbildung bei rund 30 Krankenhäusern.
Zuerst bekam sie nur eine Einladung zum Vorstellungsgespräch, wenige Tage später folgte die zweite. Gemessen an ihren Unterlagen, ihrer Leistung, Kompetenz und ihrem Auftreten sind zwei Gespräche meiner Meinung nach ein absolutes Muss. Und dennoch: Ich bin erleichtert. Der Druck ist enorm. Das ist ihre Chance darauf, eine neue Perspektive zu bekommen, selbstständig zu sein, ihren Traum vom Medizinstudium noch nicht aufgeben zu müssen, am Leben in Deutschland teilzuhaben. Auszubildende zu sein und nicht Geflüchtete.
Leyla hat nicht einfach nur viel getan. Sie hat 1,5 Jahre lang jeden Tag von 4 Uhr morgens bis 21 Uhr Abends in irgendeiner Form Deutsch gelernt. Sie hat sich selbstständig durch einen Beruf-Ratgeber vom Jobcenter gewühlt, bei dem sie die Ausbildung entdeckt hat. Sie hat alle Krankenhäuser von vorne bis hinten durchrecherchiert, hat sich bei Bewerbungs-Beratungsstellen Tipps abgeholt, wie man Lebensläufe schreibt. Natürlich habe ich sie auch dabei unterstützt. Es gibt aber nichts in Leylas Leben, wobei man sie unterstützen kann, ohne dass sie dabei nicht selbst schon weiß, was sie von einem zu erwarten hat. Wenn sie etwas nicht kann, dann muss ich liefern und ihre braunen Augen gucken mich dann an, als wollten sie sagen: „Schneller geht’s wohl nicht? Süße, ich weiß, du hast ein kuscheliges Leben, aber ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ Aber dann lacht sie wieder, rennt in die Küche, bringt Süßigkeiten mit und schüttet zu viel Zucker in den Kaffee. Und wir lachen über ein paar Männergeschichten von mir oder schmunzeln über das Denglisch ihres Vaters.
Erzähle ich Freunden und Bekannten von ihren Erfolgen, kommt manchmal nur ein Schulterzucken als Antwort. Als wäre das alles das Mindeste. Arbeiten, Ausbildung, das muss doch sein. Dabei macht der Staat bei arbeitsfähigen und -willigen Geflüchteten kaum einen halben Schritt auf die Menschen zu. Man ist ja schon völlig überlastet bei der standardmäßigen Asylbearbeitung. Arbeitsmarktintegration läuft unter Luxusproblem, die Instrumente Jobcenter und Amt verzahnen nicht miteinander und stehen sich gegenseitig im Weg. Das ist fatal für die Geflüchteten. Auf der einen Seite das Wir schaffen das-Mantra, auf der anderen werden für die Integration elementar wichtige Türen geschlossen.
Gestern kam Leylas erste Absage und im WhatsApp-Chat schicken wir uns jetzt wieder Tränen-Smilies. Und Herzen.