Die Autorin Annika Reich.Foto: Juliette Moarbes
Die Autorin Annika Reich.Foto: Juliette Moarbes

Wie das Netz wirkt

Wie politisch der Begriff Liebe sein kann, fand WIR MACHEN DAS Initiatorin Annika Reich heraus, als sie begann, sich mit geflüchteten Menschen in Deutschland zu verbinden.

Von Annika Reich, 04.06.2019

Im Sommer 2015 pendelte ich regelmäßig zwischen LAGeSo, Apotheken, Supermärkten und meiner Wohnung, um Medikamente, Trauben, Malbücher und Kleidung zu Menschen zu bringen, die aus dem Krieg geflohen waren und jetzt von den Berliner Behörden sitzen gelassen wurden. Zuerst dachte ich noch, ich würde das eine Zeit lang so weitermachen und dann in mein Leben als Schriftstellerin zurückkehren. Doch schon nach ein bis zwei Wochen wurde mir klar, dass diese Begegnungen und Erfahrungen etwas ganz Grundlegendes in meinem Leben verändert hatten.

Heute würde ich sagen, dass ich mich damals, auf eine mir unbekannte Art, mit der Welt verbunden habe und sich so mein Verständnis von Liebe transformiert hat. Bis dahin hatte ich mich immer nur mit einzelnen Menschen verbunden gefühlt und Liebe als Gefühl erfahren, das auf einzelne Personen beschränkt blieb. 2015 erlebte ich dann aber ganz konkret und vollkommen unsentimental, dass Liebe nicht privat oder persönlich sein muss, sondern auch eine Grundlage für politisches Handeln darstellen kann.

Liebe muss also nicht zwischen zwei Menschen stattfinden, die sich ineinander verlieben oder sich lieben, weil sie wie Eltern und Kind zueinander hin geboren sind. Die Liebe, von der ich spreche, liegt im Zwischenmenschlichen selbst und ist genauso bedingungs- wie vorbehaltlos. Es ist eine bestimmte Form des gemeinsamen Handelns, über die ich schließlich meinen Weg in den politischen Aktivismus gefunden habe. Denn plötzlich hatte ich eine politische Kraft entdeckt, der ich vertraute. Auf dieser Basis gründete ich mit anderen Frauen zusammen WIR MACHEN DAS.

Seitdem stellen geflüchtete Menschen und ich einen Handlungszusammenhang her und durch dieses gemeinsame Handeln entsteht ein Netz, das wirkt. Ich glaube, dass Socializing für das Gemeinwohl, also für eine Verflechtung, die über private oder berufliche Ebenen hinausreichen soll, beides braucht: das Werken und das Wirken. Es muss ein Geben und Nehmen sein und bedarf eines Vorschusses an Vertrauen – und zwar nicht in die einzelnen Personen oder sich selbst, sondern in die Tragfähigkeit von gemeinsamem Handeln.

Dass Trost nicht für Menschen reserviert ist, die ich mag, und ich nicht nur von Menschen getröstet werden kann, die mich mögen, war mir vom Schreiben und Lesen bekannt. Einer meiner stärksten Impulse für das Schreiben und Lesen von Romanen war immer, gesellschaftliche Situationen, Beziehungskonstellationen und komplexe Gefühlslagen so in Bilder zu fassen oder gefasst zu sehen, dass sich das Allein- und Unverstandensein in dem Moment des Erkanntseins im sprachlichen Bild auflöst. Doch da war das Socializing noch virtuell und mein Handeln eher künstlerisch als politisch.

Mit der Gründung von WIR MACHEN DAS gab es dann kein Zurück mehr in eine Welt, in der Liebe und Begegnungen auf das Persönliche beschränkt bleiben. Anfangs hat mich diese Öffnung überfordert, weil ich mich kaum noch abgrenzen konnte und sich diese neue Offenheit schutzlos angefühlte. Doch mit der Zeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass dieser Austausch zu einem gemeinsam hergestellten Schutzraum wird, der nicht abgrenzen muss, um sich zu stärken; inzwischen weiß ich, dass das Herstellen von Gemeinschaft mich persönlich stärker schützt als das Abgrenzen des Persönlichen.

Dass ich bei WIR MACHEN DAS und WEITER SCHREIBEN in dieser Form netzwerken kann, hat auch damit zu tun, dass ich relativ leicht Vertrauen aufbauen kann. Ich werde nicht diskriminiert, habe keinen Krieg und keine Flucht erlebt, muss nicht um meine Familie und meinen Aufenthalt bangen und lebe in einer sehr stabilen, privilegierten Situation. Ich weiß also, dass meine Form des Netzwerkens auch auf meiner gesellschaftlichen Unversehrtheit basiert und ich damit beschenkt wurde. Doch genau deshalb empfinde ich es als meine Pflicht, das Netzwerk zu stärken und täglich zu vergrößern. Die Erfahrungen, die ich dabei mache, gehören zu den beglückendsten meines Lebens. Um also ganz am Schluss doch noch einmal privat zu werden: Früher gab es ein Grundgefühl von Einsamkeit in meinem Leben. Da ich privat so wenig einsam war und bin, wie man nur sein kann, konnte ich mir nicht erklären, woher dieser Mangel rührte, doch heute verstehe ich es: Mir hat das tätige Verbundensein mit der Welt gefehlt.

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