Wo ist Zuhause, wenn du überall gelebt hast, wer bist du, wenn du keinen Anker mehr hast? Perspektiven einer modernen Nomadin.
Von Lina AlHaddad, 27.04.2017Wer bin ich? Eine einfache Frage, auf die wir komplexe Antworten finden. Wir bringen uralte Ethnien ins Spiel; berufen uns auf Propheten, Boten, Lehrer und Heilige, Sprachen und Dialekte. Familien-, Berufs- und Klassengeschichte. Bankkonten, Erzählungen, Märchen, Legenden, Klatsch und Affären, Ambitionen und Wünsche.
Aber meine Geschichte ist einfacher. Ich bin die bescheidene Summe meiner kleinen Gewohnheiten. Ich bin die langen Nächte mit meinen Freunden, bei leidenschaftlichen Diskussionen über das All, das Bewusstsein, das Konzept der Nationen. Ich bin gemütliches Faulenzen am Sonntag, versunken in mein Buch, oder laut lachend über meine Lieblingsserien. Ich bin das Tanzen zu Musik nach dem Aufwachen. Die Tasse Kaffee, die ich langsam trinke, auf einem Balkon, an einem Fenster oder irgendeiner Öffnung Richtung Himmel, wo ich glücklich die Wolken verfolge, die vor meinen Augen vorbeiziehen, ganz langsam, ohne Sorgen, ohne Ziel. Ich bin der prachtvolle Sonnenuntergang mit all seiner Chemie und Physik, die den komplexen Gleichungen ihre fantastischen Farben verleihen. Ich bin auch die barmherzige Weisheit des Sonnenuntergangs: „Ich habe heute alles gegeben und morgen werde ich das wieder tun.“
Ich bin wilde Gefühlsschwankungen. Melancholische Wehmut gefolgt von euphorischer Freude. Die flammende Frühlingsleidenschaft, die zu sommerlicher Gelassenheit und sorglosem Warten auf eine neue Geschichte verglüht. Ich bin das Reisen mit Fahrrad, Bus, Zug oder Flugzeug. Das Staunen mit offenem Mund vor all dem Großartigen, das Menschen in so kurzer Zeit erschaffen haben, die Ehrfurcht und Demut vor dem Altar der zeitlosen Mutter Natur.
Ich bin auch all meine kleinen Besitztümer, die mit etwas Mühe in einen großen Koffer passen. Ich nehme sie mit, wenn ich zu neuen Geschichten, einer neuen Heimat aufbreche. Ich bin das Paar Silberohrringe aus einem der traditionellen Geschäfte um die Umayyaden-Moschee in Damaskus; meine Mutter hat sie mir geschenkt. Ich bin das geflochtene Armband aus weißem, rotem und gelbem Garn, das ich von einem Freund habe. Es stammt aus einem uralten, friedlichen Tempel auf dem Koya Berg; die buddhistischen Mönche dort haben gebetet es möge seinem Besitzer Glück bringen.
Ich bin meine kleinen Abenteuer. Meine Enttäuschungen, Misserfolge und Erfolge. Ich bin die Lektionen des Lebens, die teuer erkauft werden müssen. Und die, die mir am Kreuzweg des Verlusts die Hand halten. Und mir ins Ohr flüstern: „Es ist alles gut, hier waren wir schon einmal, weißt du noch? Du hast gedacht, es wäre das Ende, aber das war es nicht. Und du wirst es auch diesmal überstehen.“
Ich bin die Luft, die ich lang und tief einatme während ich zähle: eins, zwei, drei; ich bin die Luft, die ich in den Lungen halte während ich zähle: eins, zwei, drei; ich bin die Luft, die ich langsam ausatme, während ich zähle: eins, zwei, drei. Und noch einmal, und noch einmal, und noch einmal. Ich wische mir die Tränen ab, flüstere mir selbst zu: „Alles wird gut.“ Ich stehe auf. Gehe weiter.
Ich bin der Mut, neue Farben zu wählen, die zu mir passen und mit denen ich mich ausmale. Ich bin die Transparenz, ein Leben zu führen, das so aussieht wie ich, mich an diesem Ort zeigt, mich in diesem Moment zeigt.
Ich bin die Liebe zu den unbegrenzten Möglichkeiten, was wir alles sein könnten, was uns zu dem macht, was wir sind, die Liebe zu den Milliarden Geschichten meines Volkes, die auf der Suche nach neuen Kapiteln jeden Winkel des blauen Planeten durchstreifen. Ich bin jede Menge Liebe für dieses Leben, für diese Gelegenheit, für jede Sekunde des Lichts, des Herzschlags und der berstenden Leidenschaft, ich nehme jeden Moment mit Freude entgegen und packe ihn sorgfältig aus, wie ein kostbares Geschenk, dessen würdig zu sein ich mir schwöre. Ich bin die Hochachtung vor unserer Einzigartigkeit, unseren Unterschieden, der Schönheit all dessen, was uns zusammenbringt und was uns trennt.
Ich bin ein kleiner Mensch, unvollkommen von außen und innen, und strebe nicht nach Vollkommenheit. Ich schwimme mit den Wellen zu unbekannten Zielen. Ich durchstreife Länder, und das Leben der Menschen, denen ich begegne, streift mich. Ich nehme den Stift heraus, blättere durch die Seiten meiner Geschichte, ich schreibe, verschiebe, ich zeichne und male sie aus, ich umarme sie herzlich: Das ist meine Geschichte, das bin ich, meine einzige Wahrheit, meine einzigartige Wahrheit.
Immer wenn ich an einem neuen Ort gestrandet bin, in einer neuen leeren Wohnung, in einer fremden Großstadt, leere ich andächtig meine Taschen, breite meine wenigen Besitztümer aus, gehe meinen kleinen Gewohnheiten nach, lese meine Geschichte, hole einmal tief Luft, mir geht es gut, ich bin zu Hause, ich bin Zuhause.
Ich trage mein Zuhause in, wo immer ich hingehe, wo immer ich lande.
Ich bin mein Zuhause.