Illustration: Claudia Klein
Illustration: Claudia Klein

Ein totes Talent

Seine einzige Sprache war die Musik. In ihr erzählte er seinen Zuhörern von Leid, Gefangenschaft und Folter.

Von Marwan Safarjalani, 13.03.2017

Er sehnte sich nach den heiteren Tagen, als er gegen das Regime sang. Die Verräter seines Heimatlands hatten ihm zweimal die Knöchel zertrümmert, aber der weiße Gips änderte nichts an seinem Streben nach Freiheit von den grausamsten Tyrannen des 21. Jahrhunderts. Die Falten in seinem Gesicht riefen Freiheit, als er die libanesische Grenze überquerte. Er kam nach Wien: dem Ort, der ihn zu einem letzten, todesschwangeren Gruß an sein Heimatland zwingt.

Shadi ist Musiker und stammt aus Homs. Er hatte in Damaskus gelebt und für das Ministerium für Kultur gearbeitet. Nach Ausbruch der Revolution wählte Shadi seinen Weg, indem er die Symphonien spielte, mit deren Liedern 2011 in Hama gegen das Regime demonstriert wurde. Er stellte sich gegen die, die das Verbrechen begangen hatten, und 2013 war er gezwungen, Damaskus zu verlassen. Seine Oud war ihm das einzige Gut, das sich zu retten lohnte. Über die Balkanroute kam er mit vielen anderen nach Wien. Als er am internationalen Busbahnhof wartete, war seine Zunge gelähmt, doch seine Finger waren befreit. Seine einzige Sprache war die Musik. In ihr erzählte er seinen Zuhörern von Leid, Gefangenschaft und Folter.

Seine Finger entlockten der Oud die traurigsten Klänge der Zurückweisung hinter europäischen Grenzen. Sein dunkelblaues Reisedokument füllte sich mit den dunklen Strichen der Ablehnung. Ich lernte ihn am Bahnhof kennen, wo die Oud an der Mauer lag, auf ein neues Schicksal wartend, auf neue Klänge. Die Falten in seinem Gesicht kündeten vom schlechten Gewissen seiner Generation, die den Kindern von Dara’a die Bürde der Revolution aufgehalst hatten. Er befreite sich durch die Musik, denn seine Finger waren der einzige Teil seiner Körpers, der dem Schmerz in seinem Kopf eine Stimme verleihen konnte.

Berlin war ein Zufluchtsort, der Shadi nicht weiter mit dunklen Strichen stigmatisierte. Er hörte einen Aufschrei nationaler Gefühle und beschloss, diese auszulöschen. Er hörte die Stimmen des Rassismus und versuchte, ihnen etwas entgegenzusetzen. Er nahm die Oud und ging zur Bodestraße. Doch als er versuchte, sich mit seinen orientalischen Talenten friedlich zu äußern, musste er feststellen, dass sein Talent nicht mehr da war. Er versuchte, die Finger zu bewegen, doch er konnte nicht mehr. Auch wenn die Wunden, die ihm die syrischen Regierungskräfte zugefügt hatten, verheilt waren, waren seine Hände nun gelähmt vom Heimweh der Immigranten. Er stand auf einer Berliner Brücke, und eine Träne fiel in die Spree. So hallten seine Schreie bis nach Wien, um den Syrern von einer neuen Tragödie zu erzählen. Der Tragödie eines toten Talents.

Shadi lässt die Oud an der Mauer liegen. Er schreit unter der Last der Lähmung und fragt nach Rache. Er bettelt um sein gestohlenes Talent, aber die Lähmung ist stärker. Er hatte Syrien verlassen, als Neugeborenen die Kehlen durchschnitten und rebellischen Kindern die Nägel gezogen wurden. Die Syrer hörten noch immer die Schreie des toten Talents auf dem Märtyrer-Platz in Damaskus, die den Tod von Shadis Kindern beklagen. Sein ewiger Friede liegt auf den Bürgersteigen der deutschen Heimat, aber die undokumentierte Reise hat ihm die letzte Seele gestohlen. Der Tod rief Shadi auf, einen neuen Strich zu ziehen und die Grenze zur in Leinen gehüllten Reinheit zu übertreten.

 

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