Unsere Autorin floh vor einigen Monaten aus Damaskus. Sie weiß: Schießbefehle werden die Menschen nicht abhalten nach Europa zu kommen, das kann nur ein Ende der Diktaturen.
Von Dima Albitar Kalaji, 17.02.2016Es sieht so aus, als würde dieses Jahr für viele von uns kein „frohes“ werden, und ich muss zugeben, dass es mir nicht leicht fällt, in diesen Zeiten zu schreiben. Seit den furchtbaren Ereignissen an Silvester in Köln hat sich die mediale Stimmung gegen Geflüchtete verstärkt, und mit ihr der Hass, die Angst und die Ablehnung. Für gewöhnlich mischt sich in solchen Zeiten die Wahrheit mit zahlreichen Gerüchten, Übertreibungen, Lügen und Generalisierungen.
Wenn allerdings die Führung der AfD – deren Popularität so sehr gewachsen ist, dass sie nun die drittmächtigste Partei in Deutschland ist –, die Polizei dazu aufruft, an den Grenzen auf Geflüchtete zu schießen, ist das wirklich angsteinflößend. Nicht, weil es wahrscheinlich passiert, sondern weil es den Weg für die Akzeptanz von rassistischer Gewalt ebnet.
Tag für Tag spüre ich, dass die Macht der Medien als vierte Gewalt abnimmt und sie sich stattdessen in ein Werkzeug der politischen Mobilmachung verwandeln. Zunehmend bedienen sie sich eines Konzepts, das mir zutiefst widerstrebt: der Verallgemeinerung. Weil aber auch ich nicht verallgemeinern will, muss ich sagen: das betrifft nicht alle Journalisten, Initiativen und Institutionen. Doch die einflussreichsten und lautesten Stimmen gehören leider der ersten Kategorie an.
Viele Menschen, die hierher kommen, haben nichts mehr zu verlieren.
Ich persönlich halte nicht viel von Konzepten wie Nationalität, Religion, Ethnizität, Traditionen und Familiengeschichte. Ich habe nie verstanden, warum ich stolz oder beschämt auf bzw. über Dinge sein sollte, die ich mir nicht ausgesucht habe, mit denen ich aber geboren wurde – wie die Farbe meiner Augen und die Farbe meiner Haare.
Ich bin hin- und hergerissen zwischen meinem Leben in Syrien und meinem neuen Leben in Deutschland. Ich versuche neu anzufangen, aber meist sind die Dinge nicht so einfach, wie sie aussehen. Ich habe keine Wahl, ich muss vorwärts gehen, dorthin, wo jemand dazu aufruft, uns zu erschießen. Doch dieser Aufruf wird niemanden abhalten: Viele der Menschen, die hier Schutz suchen, haben nichts mehr zu verlieren. Selbst ein Schießbefehl wäre keine Abschreckung, weil sie das schon erlebt haben, dort, wo sie herkommen.
Das Recht auf Leben ist das oberste Menschenrecht. Auch diese Menschen haben das Recht zu leben, und sie haben das Recht, dafür zu kämpfen. Es ist egal, wie viele Grenzen und Zäune errichtet werden, und wie hoch diese sind. Diejenigen, die um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen, werden ihren Weg finden.
Insbesondere ihr Deutschen müsstet doch wissen, dass keine Mauer, auch nicht die berühmte Berliner Mauer, die vielen Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben davon abhalten konnte, sie zu überwinden. Und auch nicht davon, für ihre Hoffnung zu sterben.
Die Extremisten in Anzügen sind nicht besser, als die mit den Bärten.
Deswegen fordere ich Frauke Petry und ihre Anhänger auf zu protestieren! Die Straßen zu besetzen! Ruft nicht dazu auf, diese armen Menschen zurückzuschicken, das wird nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Ruft stattdessen eure Politiker, Regierungen, Staatsoberhäupter auf, ihrer Unterstützung für Diktatoren ein Ende zu setzen!
Bitte versteht, dass die Regimes in diesen Ländern niemals zu Stabilität führen werden. Hört auf, sie mit riesigen Geschäften und politischen Reden zu unterstützen. Hört auf mit eurer Doppelmoral, schließt die Lücke zwischen dem, was ihr in euern Ländern sagt und in unseren Ländern tut.
Erst wenn ihr verstanden habt, dass der Unterschied zwischen diesen diktatorischen Regimen und dem IS – und anderen extremistischen Gruppierungen – einzig darin besteht, dass erstere Krawatten und letztere Bärte tragen, werdet ihr nicht mehr damit klar kommen müssen, dass wir zu euch kommen!
In Deutschland haben viele wundervolle Menschen, lange vor euch, dafür gekämpft, dass ihr eure Meinung frei äußern könnt, dass ihr euer Demonstrationsrecht, durch die Polizei geschützt, ausüben könnt. Diesen „Luxus“ habe ich in Syrien nie erlebt. Die Sicherheitskräfte hatten das Recht, jeden zu verhaften, der sich mit mehr als drei Leuten trifft, und das ohne Haftbefehl.
Ihr habt unsere Stimmen nicht gehört, als wir dort waren und demonstriert haben, also hatten wir keine andere Wahl, als zu euch zu kommen. Ihr könnt nicht mehr wegschauen, wir werden nicht verschwinden, auch nicht wenn ihr eure Fernseher ausmacht. Ihr habt keine andere Wahl, als eure Stimme mit unserer zu vereinen und gemeinsam mit uns die Diktaturen in dieser Welt zu bekämpfen.