Im Magazin „Wir hier“ des Willkommen Team Norderstedt schreiben Geflüchtete über ihren Blick in die Welt. Unter ihnen: Die Journalistin und Aktivistin Samah Alshaghdari. Sie hat viel erlebt. Und will viel loswerden.
Von Ahmad Alrifaee, 08.02.2018Es ist die letzte Redaktionssitzung des Jahres. Heft Nummer 2 ist fertig. Susanne Martin, Leiterin des Willkommen-Team Norderstedt ist erleichtert: „Jetzt gehen wir noch einmal alles durch und dann ist wieder ein ordentlicher Brocken Arbeit geschafft.“ Der Brocken, er verteilt sich auf 30 bunten DIN A4 Seiten. Und auf den Schultern von rund 12 Redaktionsmitgliedern, allesamt Geflüchtete, die heute in Norderstedt, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein vor den Toren Hamburgs, leben. „Wir hier“ nennen die Neu-Norderstedter ihr Magazin und füllen es mit Geschichten aus über zehn Nationen, verfasst überwiegend auf Deutsch aber auch auf Arabisch, Dari oder Russisch.
Ein Beitrag fällt aus der Reihe – der Essay über die historische Bedeutung und Rolle der Frau im Jemen, verfasst von der Schriftstellerin und Aktivistin Samah Alshaghdari. Eigentlich ist er zu lang für das Magazin. Damit er nicht den Rahmen sprengt, hat Susanne Martin den flammenden Text geteilt: im aktuellen Heft erscheint der zweite Teil. Typisch – denn was Samah Alshaghdari zu sagen hat, passt meistens in keine Form. „Samah ist eine auffällige Person“, sagt Susanne Martin. „Sie hat einen scharfen Verstand und vertritt extrem hartnäckig ihre Ansichten. Vor allem wenn sie sich falsch verstanden fühlt.“
Die innere Revolution
Für Verständnis kämpfen, das hat Samah Alshaghdari schon als kleines Kind gelernt. 1983 wird sie in Jemens Haupstadt Sanaa geboren. Ein gesundes Kind. Doch dann häufen sich Erkältungen, sie leidet unter ständigen Kopf- und Gliederschmerzen. Nach drei Monaten die Diagnose: Kinderlähmung. Von nun an ist sie auf Gehhilfen angewiesen. In der konservativen jemenitischen Gesellschaft hat Samahs Familie ihre ganz eigenen Vorstellungen davon, wie die Zukunft der Tochter aussehen soll. Allerdings sieht Samah das wiederum ganz anders. Gegen den Willen ihres liberalen Vaters entscheidet sie sich für eine islamische Schule. „Er hat versucht, mich von meiner Entscheidung abzubringen. Aber obwohl er großen Einfluss auf mich hatte, ist er gescheitert“, erinnert sie sich.
Als Samah aufs Gymnasium geht, stirbt der Vater. Plötzlich. Ein Schock für das junge Mädchen, so furchtbar, dass sie ein ganzes Jahr nicht zur Schule geht. Erst als die Mutter Samah mit ihrem Cousin verheiraten will, geht sie zurück in die Klasse, um so der aufgezwungenen Heirat zu entgehen. „Ich hatte Angst, durchzufallen aber irgendwie habe ich es geschafft“, sagt sie. Dieser erste, frühe Kampf um Selbstbestimmung setzt ungeahnte Kräfte in ihr frei. „Es war wie eine innere Revolution: ich verließ die islamische Schule, warf meine Krücken weg, akzeptierte endlich den Gehapparat. Und ich ging meinen Interessen nach: ich fing an, Gedichte zu schreiben und besuchte Lesungen von Dichtern und Intellektuellen.“ Bei der Wahl ihres Studienfachs kann sich Samah nicht durchsetzen, statt Medienwissenschaften muss sie BWL studieren. Aber die Betriebswirtschaft ist nicht ihre Leidenschaft – sie schreibt Gedichte, sehr persönliche. Über ihren Alltag, die Liebe und Beziehungen. Obwohl sich die Familie für diese intimen Bekenntnisse schämt, macht sie weiter, veröffentlicht in verschiedenen Zeitungen und bringt schließlich ihren ersten eigenen Gedichtband heraus.
Doch es sind nicht nur Gefühle – Samah quälen die existenziellen Fragen. Sie studiert weiter, Philosophie. Doch im Jemen ist nicht die Zeit für Denker und Dichter: Die Islamisten verboten die Philosophie, der Lehrplan ist ideologisch ausgedünnt. Also liest Samah was sie kriegen kann. So weitet sich ihr Stil – und ihre Sprache. Je mehr sie abrückt von der Beschreibung ihrer eigenen Erfahrung umso direkter kann sie gesellschaftliche Probleme benennen. Sie wagt mehr, schreibt über Religion, Feminismus, Gesellschaft und Politik. „Erstaunlicherweise war das kein Problem für meine Familie, weil ich indirekt schrieb, statt mich auf mich selbst zu beziehen“, erzählt sie und lächelt breit. So findet die Querdenkerin einen Weg, auf subtile Art Gesellschaftskritik zu betreiben ohne anzuecken. Mit Erfolg: wenig später arbeitet sie für das jemenitische Fernsehen und produziert Dokumentationen. Bis im Februar 2011 der Arabische Frühling den Jemen erreicht.
Die äußere Revolution
„Jemen ist ein Land, wo die Institutionen keine richtige Bedeutung haben. Der Präsident, Ali Abdullah Salih, regierte das Land mehr als 33 Jahre, er hatte alle Rechte, war der einzige Gott des Landes. Mein ganzes Leben lang war dieser Mann Jemens Präsident. Ich hätte damals sehr gern einen anderen Präsidentennamen gehört“, ärgert sie sich. Der neue politische Ungehorsam gibt ihr Aufwind. „Seit ich denken kann, bin ich eine Revolutionärin. Ich habe immer rebelliert: zuerst gegen mich selbst, dann gegen meine Eltern, die Familie, die Gesellschaft, die Tradition. Und ich habe für Frauen und ihre Rechte gekämpft. Für mich war es logisch, dass jetzt die Revolution gegen das Regime kommen musste.“
Samah gründet mit anderen die Gruppe „Zusammen für die Veränderung“, organisiert Demos. „Die Revolution war für mich eine große Freude. Ich bin morgens vor der Arbeit demonstrieren gegangen, nach der Arbeit wieder und am Abend nochmal“, sagt Samah und ihre Augen strahlen. „Die Demos erfüllten mein Leben. Es ging um die Würde des Menschen, um Bildung, eine bessere Gesundheitsversorgung für alle. Frauen und Männer kämpften gemeinsam. Erst als die Revolution sich bewaffnete, wurden wir getrennt.“
Der Traum von Veränderung zerplatzt – die Revolution zerlegt sich selbst. Samah gründet die Produktionsfirma „Kino Schall“. Im Film „Jemenitinnen bilden die Veränderung“ begleitet sie Frauen die im Herzen der Revolution, dem Taghier Platz ihre Kämpfe nach außen tragen: die Ärztin, die Verletzte behandelt. Die Lehrerin, die mitten auf dem Platz einen Klassenraum eröffnet. Die Künstlerinnen, die ein offenes Atelier gründen. „Ich glaube daran, dass man mit Medien, Literatur und Kunst die Gesellschaft verändern kann“, sagt Samah. Ihre Filme zeigte sie öffentlich – denn auch Kinovorstellungen gab es im Jemen schon lange nicht mehr.
Abschied vom Jemen und neue Kämpfe
Was dann folgt, ist für Samah dunkle und traurige Erinnerung. Nach dem Militäreinsatz von Saudi-Arabien gegen die „Huthi-Miliz“ verschlimmert sich die Situation im Jemen dramatisch. Vom Himmel aus bombardieren und zerstören saudische Flugzeuge die Städte, während am Boden die Huthi-Miliz Menschen verhaften und töten. Eine Mitarbeiterin von Samahs Produktionsfirma sei getötet worden, sagt sie. Der Fotograf festgenommen. Als ihr Haus belagert und sie selbst bedroht wird, entschließt sie sich zur Flucht.
Samah geht nach Berlin, kommt eine Weile bei Freunden unter, beantragt Asyl. Noch am selben Tag bringen die Beamten sie in eine Unterkunft in Neumünster „Ich durfte nicht mal meine Medikamente und Sachen abholen, ich hatte Angst vor den Beamten. Es war menschenunwürdig“, erinnert sie sich. Ab sofort lebt sie in einem Camp in Neumünster. Es ist die schlimmste Zeit ihres Lebens. „Zum ersten Mal im Leben hatte ich das Gefühl, ich hätte alles verloren, es sei zu Ende. In vier Monaten war ich sechs Mal im Krankenhaus, beim letzten Aufenthalt konnte ich eine Woche lang nicht sprechen. Ich dachte, ich würde nie wieder etwas sagen können. Aber auch diesen Schock habe ich überwunden.“
Heute hat Samah ihre Sprache wiedergefunden. Seit etwa einem Jahr lebt sie in Norderstedt. Sie hat eine Wohnung, die Leute kennen sie. Aber die Fremde nagt an ihr. „Mein Leben war immer voller Schwierigkeiten, aber hier sind sie am härtesten. Zum ersten Mal fühle ich mich behindert. Ich glaube, der Tod ist leichter, als im Exil zu leben. Das bei Null anfangen ist noch nicht mal schlimm, aber Heimat, Familie und Gedächtnis zu verlieren“, sagt sie und ihr kleiner Körper sinkt noch mehr in sich zusammen. „Jedes Mal, wenn ich in meine Wohnung komme, versuche ich, mich an den Geruch meines Zuhauses im Jemen zu erinnern. Die echte Samah ist noch im Jemen. Aber ich versuche, sie herzuholen“
Für das Norderstedter „Wir hier“-Magazin zu schreiben ist eine Chance – und entfacht neue Hoffnung. „Das ist mein erster Schritt in der neuen Heimat“, sagt sie und plötzlich ist es wieder da, dieses entwaffnende Lächeln. Ich bin sehr motiviert und habe viele Ideen“. Im März plant Susanne Martin bereits die nächste Ausgabe. Samah will endlich wieder Gedichte schreiben. Aber auch Regie studieren und ihre Produktionsfirma Kino Schall in Deutschland neu aufbauen. Auf jeden Fall weiter die Geschichten starker Frauen erzählen. Und vielleicht sogar in eine Partei eintreten.
Dieser Artikel ist im Rahmen unseres Tandem-Projekts „Wir sind Viele. Geschichten aus der Einwanderungsgesellschaft“ entstanden und wurde initiiert von Wir machen das.
Der Beitrag ist zuerst am 13.01.2018 im Hamburger Abendblatt erschienen.
Das Tandem für diesen Text bildeten Georgina Fakunmoju aus Hamburg und Ahmad Alrifaee aus Syrien.
– Ahmad Alrifaee widmete sich während der Revolution in Syrien seiner neuen Berufung als Videoreporter und Fotograf. Durch Empfehlungen und nachdem seine Arbeiten von Arabischen Fernsehsendern veröffentlicht worden waren, wurde die Nachrichtenagentur Reuters auf ihn aufmerksam und beauftragte ihn als freien Mitarbeiter für die Bildberichterstattung. In Deutschland arbeitet Alrifaee als Praktikant bei Tageszeitungen, an eigenen Kurzfilmen und an seinem Traum, Regisseur zu werden. Ahmad arbeitet außerdem im Zuge seines Bundesfreiwilligendienstes an der Hamburg Media School.
– Georgina Fakunmoju studierte Europäische Medienwissenschaft in Potsdam und Journalismus in Monterrey, Mexiko. Sie machte Hospitationen beim Spiegel, dem ZDF, NDR und bei Radio Bremen und Bild. Sie arbeitet heute als Autorin für den NDR.