Illustration: Johanna Benz
Illustration: Johanna Benz

Und unter uns die Lava

Christin Figl hat die Corona-Pandemie zum Anlass genommen, um zu erkunden, wie die derzeitigen gesellschaftlichen Spannungen am besten auszuhalten sind. Von den hitzebeständigen Materialien des Maschinenraums über die geologischen Verhältnisse im Erdinnern denkt sie bis hin zu einer widerständigen Demokratie.

Von Christin Figl, 08.06.2020

Feuerbeständig soll er sein. Große Hitze aushalten, Flammen widerstehen, bestenfalls warm werden. Nie mitfiebern, versengen, verbrennen. Der Maschinenraum der Demokratie.

Eine schöne Vorstellung, so ein sicherer Ort, ein Raum, in dem das Triebwerk und alle essenziellen Einrichtungen gut geschützt sind. Aber kann Demokratie in einen solchen Raum gesperrt werden? Lebt sie nicht von Austausch und Dialog? Ist ihr Kern nicht per se schon immer verbunden mit dem Außen?

Die Notwendigkeit von Schutz, Beständigkeit und Sicherheit zerrt in die eine Richtung, der Wunsch nach Flexibilität, Mitbestimmung, Offenheit und Freiheit in die andere. Diskussionen verhärten die Lage, wenn Forderungen gegeneinander ausgespielt werden und das Und nicht mehr denkbar scheint. Ein Entweder-oder verstärkt die Spannung, lässt kaum Zwischenräume offen, spielt Leben gegen Freiheit aus, Schutz gegen internationale Solidarität und spitzt die Positionen zu. Die Demokratie steht dazwischen, muss Vielstimmigkeit aushalten, sie nicht nur zulassen, sondern fördern, und darf dennoch nicht zerreißen. Auch nicht in außergewöhnlichen Situationen.

Eine Lebenskrise wird in der Psychotherapie gerne als Chance gesehen. Wenn bisherige Problemlösungsstrategien nicht mehr greifen, bietet die Krise Lernmöglichkeiten, kann notwendige Veränderungen aufzeigen und Menschen im besten Fall gestärkt daraus hervorgehen lassen.

Es ist eine Krise, in der wir uns derzeit befinden, höre und lese ich oft und ich frage mich, wer sie als solche lebt und erlebt, die Ausnahmesituation. Bricht durch Corona plötzlich die Krise in den Garten am Stadtrand ein, in das Leben der pensionierten Ingenieurin, in das Büro des Professors? Vielleicht. Wahrscheinlich wird sie dort jedoch gut abgefedert durch Ressourcen, durch vorhandenen Raum, durch Geld und eine Vielzahl an Möglichkeiten. Ein ungebremster Aufprall dagegen bricht mit voller Wucht ein, zerstört und gefährdet: Der gewalttätige Partner wird zum einzigen Sozialkontakt und zur ständigen Bedrohung, die Existenz des freiberuflichen Musikers bricht weg, die alleinerziehende Mutter soll in der kleinen Stadtwohnung Kindergarten, Schule und Homeoffice unterbringen, die dringend notwendige psychotherapeutische Reha wird für den arbeitslosen Fremdenführer bis auf Weiteres verschoben. In Lars von Triers „Melancholia“ sind das Näherkommen und der Aufprall des fremden Planeten nicht mehr zu verhindern. In der jetzigen Situation dagegen ist es Aufgabe der Demokratie, den Aufprall abzufedern, auszubalancieren, um nicht die eigene Form zu verlieren.

Wie können wir sie nun schützen, die Demokratie, die stabil und beweglich sein soll, offen und zugleich geschützt?

Widerstandsfähige Materialien müssen nicht starr sein, viele geben dem Druck bis zu einem gewissen Grad nach und kehren dann in den Ausgangszustand zurück. Brücken müssen schwingen, damit sie die Belastung ausgleichen, und sind dennoch stabil. Eine Demokratie kann sich nicht hermetisch abschließen, einsperren und schützen, sondern braucht immer auch das Korrektiv von außen und muss reagieren können.

Vielleicht wird kein Materialraum gebraucht, vielleicht reichen hitzebeständige, widerstandsfähige Materialien als Basis. Damit ausgestattet bleibt sie gut sichtbar, die Demokratie, und kann sich der Ursache der Krise stellen, Lösungsstrategien entwickeln und aktiv auf Veränderungen eingehen.

Covid-19 katalysiert an vielen Stellen, beschleunigt, vergrößert und verstärkt damit bisherige Situationen – individuelle Lebensumstände wie politische Systeme. Verschleierte Strukturen werden sichtbarer, wenn Menschenrechte sich primär an Staatsbüger*innenschaft heften und der Schutz vor Covid-19 verebbt, wenn es um die Situation von geflüchteten Menschen geht. Patriarchale Strukturen treten hervor, wenn eine Riege an überwiegend weißen, männlichen Virologen, Politikern und Spezialisten das Sagen haben. Die Krise macht deutlich, wo Schwachstellen liegen, wo die Demokratie angreifbar wird, strauchelt und Nachbesserungen notwendig werden.

Doch wie kann sie gestärkt hervorgehen aus der Pandemie? Welche Chancen liegen in der derzeitigen Situation? Kann das Und gestützt und Vielstimmigkeit gelebt werden?

Dafür müssten die Demokratie wie jede*r Einzelne in dieser schwierigen Situation gut aufeinander achten. Wir müssten Nein-Sagen lernen, wenn Grenzen massiv missachtet werden, für positive Erfahrungen sorgen und Neues ausprobieren. Statt sich zu isolieren, gilt es, Verbindungen zu fördern, positive Beziehungen zu stärken und sich gegenseitig zu unterstützen.

Menschen in Krisensituationen können problemorientiert den Stressauslöser herausfinden und die Ursache beheben sowie emotionsorientiert das eigene Verhalten und die damit einhergehenden Gefühle verändern. Der Auslöser dieser Krise ist bekannt, mögliche Impf- und Behandlungsstoffe werden erforscht, die Ungewissheit, wie die nächsten Monate verlaufen werden, und damit einhergehende offene Fragen bleiben jedoch.

In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie kann Gerechtigkeit im Gesundheitssystem gewährleistet werden? Was wird gebraucht für die Zukunft der Globalisierung und eine globale Verteilung von Gütern? Ist die Demokratie all diesen Fragen gewachsen? Schafft sie es, die Spannungszustände gut auszuhalten? Die Maßnahmen müssen dafür stets abgestimmt werden auf die sich verändernden Verhältnisse, alles muss im Fluss bleiben. Nur so können Schutz und Solidarität gewahrt werden, ebenso Vertrauen und Kontrolle, Sicherheit und Freiheit.

Auch tief unter uns ist es flüssig. Die Hitze im Erdinneren spüren wir selten, die schweren Stoffe sanken mit der Zeit hinein, leichtere Materialien kühlten außen nach und nach ab. Fest und flüssig, stabil und beweglich, widerstandsfähig und vulnerabel macht es uns die Erdkugel seit Jahrtausenden vor – das geht.

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Dieser Essay wurde ausgewählt aus 40 weiteren Beiträgen, die uns im Rahmen unseres Wettbewerbs „Erkundungen im Maschinenraum der Demokratie“ zugesendet wurden, um sich mit den Themen Demokratie und Grundgesetz vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie 2020 auseinanderzusetzen.

Drei weitere ausgewählte Essays können Sie hier nachlesen.

Der Wettbewerb entstand im Rahmen des Projekts Demokratie? Eine Frage der Verfassung! unter der Projektleitung der Soziologin Uta Rüchel in Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld (Professur für Zeitgeschichte) und der Robert-Havemann-Gesellschaft. Das Projekt von WIR MACHEN DAS wird gefördert von der Bundeszentrale für Politische Bildung.

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