Illustration: Tuffix (2019)
Illustration: Tuffix (2019)

Türkisch für Anfänger*innen

Wer in zweiter oder dritter Generation in Deutschland lebt, spricht längst nicht mehr selbstverständlich die Sprache der Eltern oder Großeltern. Über die unerwarteten Begegnungen in einem Türkisch-Sprachkurs berichtet Valeria Dobralskaya.

Von Valeria Dobralskaya, 28.01.2019

Im neuen Semester stand ich als angehende Masterstudentin der Islamwissenschaften vor der Wahl einer zweiten fachrelevanten Fremdsprache. Im Bachelor hatte ich Arabisch gelernt. Durch Praktika und Engagement in der Flüchtlingshilfe konnte ich meine Sprachkenntnisse gleich anwenden und verinnerlichen – ein Erfolgsrezept.

Also wollte ich es wieder so machen: In den Unikursen Grammatik pauken, im Alltag das Gelernte anwenden. Und wenn man in Berlin lebt, eignet sich da kaum eine andere Sprache so gut wie Türkisch – dachte ich und schrieb mich für Türkisch I ein.

Tag eins, Vorstellungsrunde: Im Raum sitzen neben Lasse, Birte, Maximilian und Lugina auch Emin, Dilara, Özlem und Elif*. Rund ein Drittel der Teilnehmer*innen sind türkischstämmig. Ich bin leicht genervt – was machen die denn hier, im Anfänger*innenkurs? Sie sind doch in einer türkischen Familie aufgewachsen und haben einen enormen Vorteil den anderen Kursteilnehmer*innen gegenüber. Dass es Türk*innen gibt, die kein Türkisch sprechen, will mir nicht recht in den Kopf.

In der Vorstellungsrunde stellt sich heraus, dass Emin, Dilara, Özlem und Elif zu Hause kein Türkisch gelernt haben und sich jetzt wie alle anderen abmühen müssen beziehungsweise wollen. Nach dem Kurs gehe ich dem im Student*innencafé auf den Grund.

Özlem sagt, dass sie ihre Muttersprache kurz nach der Einschulung verlernt habe. Als Kleinkind konnte sie fließend Türkisch, in der Schule hieß es aber: „Hier wird Deutsch gesprochen!“ Darüber wachten die Lehrer*innen akribisch. Özlems Eltern wollten nicht, dass sie Probleme in der Schule bekommt, und haben angefangen, auch zu Hause Deutsch zu sprechen. Jetzt sieht sie das als Verrat an der eigenen Lebensgeschichte. „Man soll doch dazu stehen, wer man ist“, sagt sie – und ist verärgert, dass sie sich über Jahre nicht mit ihrer Familie in der Türkei verständigen konnte. Das möchte sie unbedingt ändern, um die Sprache auch an die eigenen Kinder weiterzugeben.

Dilara erklärt, sie hätten zu Hause ausschließlich Deutsch gesprochen, weil sie nur ein türkisches Elternteil hat. „Ich glaube, mein Vater hat seine Muttersprache nicht mit mir gesprochen, weil er sich nicht mit der Türkei identifiziert hat. Er kam mit 18 Jahren nach Deutschland und das Türkische spielte in seinem Leben überhaupt keine Rolle.“ Dilara selbst wollte eigentlich schon immer Türkisch sprechen, auch wegen ihrem Freund, aber wirklich dringend wurde der Wunsch erst im letzten Jahr – da war sie zum ersten Mal in der Türkei. Sie möchte Türkisch lernen wegen ihrer Familie, die dort wohnt, und sie kann sich gut vorstellen, selbst im Land zu leben und zu arbeiten.

Seine Kindheit hat Emin vor dem Fernsehen verbracht, und daher sei seine Wahrnehmung von klein auf deutsch gewesen. Er war der Jüngste von sechs Geschwistern, musste aber die Hausaufgaben der Älteren erledigen, weil er von allen am besten Deutsch konnte. Auch für seine Eltern musste er bei Terminen dolmetschen. Mama und Papa seien ständig überfordert gewesen. Sie gehörten zur ersten Generation von Gastarbeiter*innen, die nach Deutschland kamen, und hatten noch Jahrzehnte danach mit dem Kulturschock zu kämpfen. Irgendwann war es dann so weit: Wenn seine Eltern mit Emin kommunizieren wollten, mussten seine Geschwister übersetzen.  

Später ist er von zu Hause abgehauen, kam in eine deutsche Pflegefamilie, von da an war für Jahre Schluss mit Türkisch. Vor Kurzem hat Emin sich mit der eigenen Familie versöhnt. Er hat sich gefragt, wer er genau ist und was ihn ausmacht. Er wollte zu seinen Wurzeln finden und hat festgestellt, dass er sich mit dem Türkischen sehr wohl identifizieren kann.

Was Elif erzählt, möchte sie in keiner Kolumne lesen

Auf dem Weg nach Hause stelle ich mir in der übervollen U-Bahn die Frage, ob die Sache anders aussähe, wenn die Sprache nicht Türkisch, sondern Englisch, Französisch oder Norwegisch wäre. Nicht eine Sprache der uncoolen Migrant*innen, sondern eine der coolen Expats. Müssten wir dann Schlagzeilen wie „Nur eins von 103 Kindern spricht zu Hause Deutsch!“ oder „Wir sind britannisiert“ (frankonisiert, skandinavisiert) lesen? Würden Lehrer*innen dann darauf bestehen, dass man auf dem Schulhof ausschließlich Deutsch spricht? Und würden Eltern mehr Ressourcen aufwenden, um ihre Sprache weiterzugeben, anstatt sie aufzugeben, weil sie den Kindern irgendwann Probleme bereiten könnte?

Kübra Gümüşay schrieb: „Türkisch lernt man nicht, Türkisch verlernt man lieber.“ Meine Kommiliton*innen zeigen: Das muss nicht so sein, zumindest nicht endgültig. Durch die Rückkehr zum Türkischen gewinnen Emin, Dilara, Özlem und Elif ein Stückchen Selbstbestimmung über die eigene Identität und über das eigene Leben. Sie widersetzen sich den von außen diktierten Einflüssen, denen ihre Eltern nicht standhalten konnten.

Ich bin nicht mehr von den Türk*innen im Türkisch-Kurs genervt – ich bewundere sie und ihr Empowerment.

* Der Name wurde von der Redaktion geändert.

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