Aus dem Buch "Das ist meine Geschichte". Illustration: Huda Takriti
Aus dem Buch „Das ist meine Geschichte“. Illustration: Huda Takriti

Polylog

Worum geht es in eurer Arbeit genau?

Wir sind das Kollektiv Polylog, und unser Buch, das im Mai 2019 beim Unrast Verlag erschienen ist, heißt: „Das ist meine Geschichte – Frauen im Gespräch über Flucht und Ankommen”. Es ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen geflüchteten Frauen aus Syrien, dem Iran, Irak und aus Aserbaidschan, von Studierenden und Dozierenden am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie (IfSKA) der Freien Universität Berlin, und Mitgliedern des International Women Space, einer aktivistischen Gruppe von Frauen mit und ohne Migrationserfahrungen. Wir haben uns während eines gemeinsamen Seminars im Wintersemester 2017/2018 am Institut kennengelernt. Die Idee für das Buchprojekt entstand gemeinsam mit der arabischsprachigen Frauengruppe von LouLou Begegnungsort für alte und neue Nachbar*innen der StadtRand gGmbH in Berlin.

„Das ist meine Geschichte“ dokumentiert sieben Gespräche, in denen sich Frauen in ihrer jeweiligen Muttersprache und in Deutsch über ihr Leben und die (Un-)Möglichkeiten des Ankommens in Berlin unterhalten. Es geht um elementare Themen in der Berliner Situation und die Fluchterfahrungen. Um Fragen, die alle aus persönlicher Perspektive formuliert werden:

Welche Erfahrungen haben wir auf dem Weg nach Deutschland gemacht? Wie wirken sich Verschärfungen im Asylrecht oder die Einschränkung der Familienzusammenführung auf unser Leben hier aus? Was bedeutet die Situation als Schutzsuchende für uns im Alltag, bei Wohnungs- und Arbeitssuche? Wie empfinden wir das Zusammenleben mit unterschiedlichen Menschen und unser Frau-Sein in einem neuen Land? Wie haben sich unsere Sichtweisen auf das Leben geändert, seitdem wir unsere Heimat verlassen mussten? Welche Befürchtungen und Wünsche haben wir in Bezug auf die Zukunft? Was bedeutet Ankommen für uns?

Wofür engagiert ihr euch?

Es geht uns darum, Frauen, die in den letzten Jahren nach Deutschland geflüchtet sind, die Kontrolle über die Darstellung ihrer Lebensrealitäten im öffentlichen Raum zu überlassen. Im Vordergrund des Buches stehen ihre Stimmen und Erfahrungen. Mit ihren Erzählungen wollen sie zeigen, dass sie keine homogene Gruppe sind. Dass sie als selbstbestimmte, aktive Individuen wahrgenommen werden möchten. Dass sie mehr sind als nur Nummern in Statistiken, dass sie nicht die stereotypen Bilder ‚des Flüchtlings’ bedienen wollen.

Wir hoffen, dass möglichst viele Frauen darüber Kraft und Hoffnung schöpfen, dass sie Teile ihrer Erfahrungen wiedererkennen und sich mit anderen vernetzen. Den anderen wünschen wir, dass sie ihre teils ablehnende Haltung gegenüber geflüchteten Menschen und die Befürwortung der europäischen Grenz- und Migrationspolitik überdenken. Denn gerade durch Isolation, Marginalisierung und Kriminalisierung geflüchteter Menschen wurde in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern bisher viel Hass geschürt.

Darüber hinaus wünschen wir uns, dass sich mehr Menschen zu Gruppen und Kollektiven zusammenschließen, gemeinsam politisch aktiv sind und solidarisch miteinander umgehen. Der Name des Kollektivs steht dabei für die zentrale Bedeutung, die wir solchen gemeinsam gestalteten Begegnungs- und Erfahrungsräumen von Menschen mit und ohne Flucht- beziehungsweise Migrationserfahrungen zumessen. Wir glauben, dass die Grundlage für ein gesellschaftliches Zusammenleben und Verstehen nur durch den Austausch und durch Gespräche zwischen Personen mit diversen Erfahrungen und Positionen zu schaffen ist.

Wie seid ihr zu eurem Engagement gekommen?

Unserer Arbeit als Kollektiv Polylog ist ein Forschungsprojekt zur Situation von geflüchteten Frauen in Berliner Geflüchtetenunterkünften im Jahr 2015 vorangegangen. Diese Forschung wurde durch den International Women Space angeregt und durch Studierende und Dozierende am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin realisiert.

Seit 2015, dem Höhepunkt der so genannten ‚Flüchtlingskrise’, hat die Abschottung und Verschärfung des Asylrechts in Deutschland und der EU massiv zugenommen. In den hierzulande geführten Debatten kommen geflüchtete Menschen selbst  seither kaum zu Wort – insbesondere mangelt es an Aufmerksamkeit für die Sichtweisen von Frauen als Zeuginnen der aktuellen Geschehnisse.

In Deutschland gehen ihre Stimmen oft ungehört an der Gesellschaft vorbei. Zwar erfassen humanitäre Organisationen eine Reihe von Daten zum Thema „Frauen und Migration“, doch meist beachten sie dabei weder das eigene Wissen der Frauen über die Bedürfnisse und Stärken ihrer Communities noch ihr Verständnis davon, wie beispielsweise Geflüchtetenunterkünfte verwaltet und organisiert oder ganz allgemein ihre Lebensbedingungen verbessert werden könnten. Und das, wo insbesondere geflüchtete Frauen in Deutschland tiefen strukturellen Ungerechtigkeiten unterliegen, die ihre Erfahrungen wie Leitmotive prägen.

Diese Ungerechtigkeiten in ihrer hartnäckigen Wiederkehr aufzuzeigen, ist ein Ziel unseres Projektes. Den unerträglichen Zustand der Not- und Gemeinschaftsunterkünfte, den alltäglichen und strukturellen Rassismus in Behörden und bei gesellschaftlichen Begegnungen, den Schwierigkeiten der sprachlichen Verständigung – kurz: die zahllosen Umständen, die es schwer machen, das Leben an diesem neuen Ort selbstbestimmt zu gestalten.

Unser Buch verurteilt die Unmenschlichkeit repressiver europäischer Migrationspolitik gegenüber Menschen, die nach Europa geflüchtet oder migriert sind – und auf deren Notlagen Deutschland und Europa nun schon seit Jahren in erster Linie mit Abwehr reagieren.

Was sind die größten Herausforderungen eurer Arbeit?

Im Zentrum des Projektes stand für uns immer der Prozess, der sich – über die Publikation des Buchs hinaus – aktuell in Lesungen an verschiedenen Orten fortsetzt. Das bedeutet aber auch, sich mit vielen Leuten – dem Kollektiv und weiteren beteiligten Einzelpersonen, also ungefähr 40 Menschen – gemeinsam über Verschiedenstes abzusprechen, Entscheidungen zu treffen und Termine zu koordinieren. Und das vor allem in verschiedenen Sprachen: Arabisch, Deutsch, Englisch, Farsi und Türkisch. Für uns war und ist es daher vor allem entscheidend, Übersetzer*innen zu finden, die es uns ermöglichen, uns auszutauschen, gemeinsam an Texten zu arbeiten und zu redigieren. Viele von ihnen haben während des Publikationsprozesses kurzfristig und ehrenamtlich Texte transkribiert, übersetzt, überarbeitet, lektoriert – eine Arbeit, die oft ungesehen bleibt.

Zudem waren wir auf finanzielle Unterstützung verschiedener Institutionen angewiesen und hatten zeitweise auch Schwierigkeiten, die notwendigen finanziellen Mittel aufzutreiben. Dabei sind diese entscheidend, um die intensive Arbeit Beteiligter zu entlohnen.

Und schließlich gibt es bei einem solchen Projekt noch unzählige weitere Dinge, die zu bedenken sind:  Wer liest Korrektur? Wer kann helfen, Kontakte herzustellen? Wie stellen wir sicher, dass wir als Gruppe gut zusammenarbeiten? Wie können Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse so verlaufen, dass die entsprechenden Personen eingebunden werden und wir trotzdem unsere Deadlines einhalten? Wie organisieren wir Kinderbetreuung? Wir hatten oft das große Glück, von engagierten Unterstützer*innen Hilfe zu bekommen. Und der Prozess geht ja weiter – learning by doing!

Was treibt euch an, weiterzumachen?

Zwar hat sich die Situation geflüchteter Menschen in Deutschland im Vergleich zu 2015 an einigen Stellen geändert – beispielsweise durch die Schließung von Notunterkünften –, aber in vielerlei Hinsicht leider auch immens verschlechtert. So werden unter anderem Gesetze verabschiedet, welche die Rechte bestimmter Gruppen von Schutzsuchenden weiter einschränken. Nach wie vor gibt es eine Vielzahl rassistischer Angriffe auf People of Color und Schwarze Menschen – sowohl Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, als auch Menschen, die nach Deutschland migriert sind. Darüber hinaus finden insbesondere die Geschichten und Perspektiven von geflüchteten Frauen auf das Thema Flucht und Migration oder ihr Leben in Deutschland nur äußerst selten Gehör im öffentlichen Raum. Die Gründe, aus denen wir ursprünglich aktiv geworden sind, bestehen also nach wie vor. Wir haben allen Grund weiterzumachen!

An welchem Ort seid ihr aktiv?

Wir sind überwiegend in Berlin aktiv, wo derzeit der Großteil der Mitglieder des Kollektivs lebt. Wir suchen aber immer nach Möglichkeiten, unser Projekt und das Buch vorzustellen und uns mit Mitstreiter*innen und Mulltiplikator*innen zu vernetzen – gerne natürlich auch weit über Berlin hinaus.

Wie lautet eure Website?

http://kollektivpolylog.de/

https://www.facebook.com/kollektivpolylog

Wie lautet eure E-Mail-Adresse?

polylog@posteo.de