Foto: Aaron Burden / unsplash [M]
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Hidden Champions

Berlin – Stadt der Vielfalt. Doch wie viel Raum hat Diversität in Schul- und Kitaalltag wirklich? Natalie Tenberg plädiert für Anerkennung statt Anpassung und wünscht sich Lernumfelder, in denen Kinder ihre kulturelle Komplexität zeigen dürfen.

Von Natalie Tenberg, 17.09.2019

Wer sagt, im Kindergarten und in der Schule hätten Kinder die besten Chancen auf Integration, lebt etwas an der Realität vorbei. Mitunter haben wir es zwar mit wunderbaren Orten zu tun, in denen junge Menschen zu offenen Erwachsenen erzogen werden. Meistens aber sind Schulen und Kindergärten, genau wie unsere Gesellschaft als Ganzes, Hüter von Normen und alten Gewohnheiten.

Zum Beispiel hier: Als die Tochter einer guten Freundin in die erste Klasse kam, fiel es ihr schwer, lesen zu lernen. Egal wie oft sie und ihre Mutter sich hinsetzten und übten: Es ging einfach nichts in den kindlichen Kopf hinein, was als gelesener Text wieder herauskam. Zu Beginn der Schulzeit machte das Mädchen einen aufgeweckten, fröhlichen Eindruck. Kurz nach den Herbstferien war es nur noch erschöpft und missmutig. Die Freundin bat um ein Gespräch mit der Lehrerin, die sich ebenfalls große Sorgen um die Schülerin machte und einen gut gemeinten Rat aussprach: „Versuchen Sie doch, eine Zeit lang nur Deutsch mit dem Kind zu sprechen. Vielleicht ist es von seiner Zweisprachigkeit überfordert.“ Und das in Berlin. Es muss das Jahr 2014 gewesen sein.

Man könnte das Erlebnis als Einzelfall betrachten, aber was ist dann mit der anderen Freundin, deren kleiner Sohn, etwa anderthalb Jahre alt, eine weinerliche Phase in der Kita durchmachte? Die Erzieherin verstand es nicht, sie war sich nur sicher, dass die Schuld nicht bei ihr liegen konnte. Irgendwann im Gespräch atmete sie tief durch, schaute genervt und sagte der Mutter: „Vielleicht liegt es daran, dass er so „dunkel“ ist und wir alle so hell.“ Damit war der Fall für die Kita gegessen. Auch das in Berlin. Es muss das Jahr 2013 gewesen sein.

Wenn ich solche Geschichten höre, fällt es mir schwer, an so was wie Fortschritt zu glauben. Eine wirklich postmigrantische Gesellschaft? Davon müssen wir noch immer träumen, vielleicht bis in alle Ewigkeit. Für mich, die ich selbst eine indische Mutter habe, und im Religionsunterricht immer vom mir unbekannten Hinduismus erzählen sollte, fühlt es sich an, als sei es schon einmal besser um uns bestellt gewesen. Als habe es zumindest schon einmal weniger Skepsis gegenüber anderen Lebenswelten gegeben und als hätten Ausgrenzungsmechanismen damals noch nicht so stark im Vordergrund gestanden wie heute. Als habe es ein anderes Interesse daran gegeben, was jemand zu bieten hatte, der sein eigenes kulturelles Päckchen trug.

An guten Initiativen und Aktionen mangelt es heute zwar nicht. Einige ehemals berüchtigte Institutionen wie die Rütli-Schule in Neukölln gelten jetzt als Paradebeispiele für Bildungserfolge, was gut und richtig ist. Aber wir sollten den Stand des Fortschritts nicht allein daran messen. Sondern auch dort hinsehen, wo zunächst mal keiner die Integration sieht und hört. Denn selbst dort gibt es uns – Deutsche mit „internationalem Extra“. Kulturelle Dolmetscher*innen, die Vielfalt erst auf den zweiten Blick einbringen, aber bereitwillig teilen, wenn sie dazu ermutigt werden. In der Klasse unserer Tochter gibt es einen Jungen, der den anderen regelmäßig von Ferien in Bulgarien erzählt – davon, was es bei seiner Oma zu sehen gibt und wie das Leben dort aussieht. Ohne seine Erzählungen würden die Klassenkamerad*innen kaum von dieser Welt erfahren.

Meine Schwester und ich waren früher zwar keine dieser „Hidden Champions“, wir hatten ganz offensichtliche Migrationsbiografien. Für den Erhalt unserer komplexen Familienbande fuhren auch wir regelmäßig nach Indien, wo die Familie meiner Mutter lebt. Zudem hatten wir stets jede Menge Besuch aus Indien bei uns im Haus. Mitunter wochenlang. Man kann gewiss sein, dass sich Kinder nach der dritten Tante, die im Jahr vorbeikommt, eine urdeutsche Ursprungsfamilie wünschen, schon aus dem Grund, dass das Bad auch mal frei ist, wenn man es braucht. Mir jedenfalls ging es so. Doch die katholische Grundschule, auf die ich damals tief im Westen der Republik ging, wurde von einer wunderbaren Person geleitet, die sich ernsthaft für unsere Herkunft interessierte und nicht zuließ, dass wir sie verdrängten.

Meine Kinder wirken mit ihren blauen Augen und den hellen Haaren heute wie der Inbegriff des deutschen Mainstreams. Viele meiner Freundinnen, deren Vorfahren sich lediglich zwischen Rhein und Ruhr bewegten, sehen viel eher nach Migrationshintergrund aus. Aber der Vergleich hinkt – weil man Vielfalt ohnehin besser erfährt als erkennt. Nehmen wir die bereits erwähnte Klasse unserer jüngeren Tochter. Der Junge mit der coolen Frisur, der schon in der ersten Klasse alles lesen konnte? Koreanischstämmig. Die Mutter des blonden Mädchens? Kommt aus Russland. Ein mexikanischstämmiges Mädchen ist gerade weggezogen und wird schmerzlich vermisst.

Wie bereichernd wäre es, wenn die Erfahrungen dieser Kinder und die kollektive Erinnerung ihrer Familien mit in den Unterricht einfließen würden? Doch dafür wird wenig bis gar kein Platz eingeräumt. Stattdessen wird statistisch erfasst, wie viele Kinder in Berlin „nicht deutscher Herkunft“ sind, ein Wert, den man von Schule zu Schule vergleichen kann. Damit wird weder der offensichtliche Rassismus verhandelt, der Kindern mit augenfälliger Migrationsbiografie noch immer – und derzeit vielleicht sogar wieder stärker – entgegenschlägt. Noch die fehlende Anerkennung kultureller Realitäten, die jenseits des deutschen Mainstreams liegen.

Wir leben heute in einem Berliner Bezirk, in dem vielleicht nicht alles gut ist, aber in dem es Hoffnung gibt, dass neue Lehrer*innen für diese Themen offen sind, oder noch besser, selbst migrantische Erfahrung mitbringen. Erste Anzeichen dafür sehe ich immerhin in den Schulen unserer Kinder. Für die Gegend ein paar Kilometer nordwärts von uns, wo die AfD große Erfolge einfährt, passiert das definitiv nicht. Was für eine Schande. Was für eine verpasste Chance.

Die Tochter der Freundin lernte übrigens doch bald lesen und schreiben; sie liest, schreibt und spricht heute in drei verschiedenen Sprachen. Den Durchbruch brachte nicht der Wechsel vom Englischen ins Deutsche, sondern, dass die Freundin ihre Tochter zum Augenarzt schleppte. Dort stellten sie fest: Das Kind braucht dringend eine Brille, und zwar eine dicke. Vielleicht bräuchten wir alle so eine Brille. Eine, mit der wir die verborgenen „Andersartigkeiten“ unserer Mitmenschen besser erkennen, akzeptieren und teilen können.

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